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10 Min

10.07.2023

Text

Dora Yuemin Cheng

Jetzt strecke ich meine losgelöste Hand nach dir aus, wirst du mich akzeptieren?

Die neue Generation chinesischer Theaterkünstlerinnen und ihre Verflechtung mit der digitalen Realität in China

Mein Google Chrome-Browser zeigt gerade drei Tabs nebeneinander an: die offizielle Website des emotionalen Optimierungswerkzeugs "Weaver Girl", eine Online-Einladung zur Präsentationsparty für die Produkte der "Weaver Girl"-Serie und die Videodokumentation der Aufführung „WeaverGirl: Spezialdesign für die Ehefrauen des Generalkonsuls (CGW001)“, die vom Ensemble _ao_ao_jing (chinesisch für "alte Hexen") kuratiert und aufgeführt wurde. Egal welche Website ich mir zuerst ansehe oder ob ich beschließe, einige der Informationen auf den angezeigten Websites zu ignorieren – ab dem Moment, wo ich auf den Link der Website geklickt habe, bin ich unfreiwillig Teil eines Rollenspiel-Diskurses. Ich bin eine der Modellzuschauer:innen und eine schwebende Seele, gefangen zwischen fortschreitender Technologie und Machtstrukturen.

Früher glaubten die Menschen, dass die Informationstechnologie, insbesondere das Internet, unbegrenzte Hyperlinks hervorbringen, sich über zahllose Schnittstellen ausbreiten, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern und schließlich die globale Verflechtung stärken könnte. Zu Beginn dieses Jahrtausends glaubten die Menschen sogar, dass die Globalisierung in den nächsten zwanzig Jahren abgeschlossen sein würde. Nach dem Ausbruch von COVID-19 im Jahr 2020 glaubt heute niemand mehr, dass die Informationstechnologie jenseits der Grenzen von Rasse, Geschlecht, Kultur, Nationalität usw. funktionieren kann. Ich zum Beispiel habe meine extremen Grenzen als Individuum erkannt; ich identifiziere mich als Frau, als asiatische Einwanderin mit chinesischem Hintergrund in Deutschland und auch als internationale Dramatikerin und Theaterpraktikerin. All diese Identitäten sichern meine Existenz. Meine anderen Identitäten in der virtuellen Welt oder im Bereich der Informationstechnologie können bis zu einem gewissen Grad die Erweiterung meiner Identitäten in der physischen Realität sein, sie sind aber auch mithilfe digitaler Werkzeuge nicht in der Lage, diesen begrenzten Radius wirklich hinter sich zu lassen.

Teil I

Aus meiner Sicht ist „Weaver Girl: Specialdesign für die Ehefrauen des Generalkonsuls (CGW001)“ eine Art Game-Theater, das von den Behörden, den technologischen Eliten und den Theaterkünstler:innen gemeinsam aufgeführt wird. Die Aufführung findet auf der Terrasse des französischen Konsulats in Shanghai statt und wird von der Frau des französischen Konsuls, Alice Chen, mit kuratiert und gespielt. Es handelt sich auch um eine Veranstaltung zur Produkteinführung des neu gegründeten Technologieunternehmens „Weaver Girl“. Darüber hinaus ist es gleichzeitig ein Betatest für die Weaver Girl-Produkte, bei der zwei Produkte vorgestellt werden: eine Software, die mit Hilfe einer Kamera die Emotionen im Gesicht eines Menschen ablesen kann, und ihr Zubehör: ein Chip. Durch die Implantation des Chips in das menschliche Gehirn und seine Steuerung mit einer Fernbedienung wird das Gerät aufgerüstet und kann die Emotionen des Benutzers überwachen und regulieren. Auch wenn Chip und Fernbedienung hier noch lediglich Requisiten der jeweiligen Aufführung sind, befindet sich diese Software tatsächlich in der Entwicklung und sammelt während der Veranstaltungen private Daten der Testteilnehmer:innen wie Herzschlag, Puls, Körpertemperatur usw.

Nach den drei Tabs auf meinem Google Chrome zu urteilen, evoziert „Weaver Girl: Specialdesign für die Ehefrauen des Generalkonsuls (CGW001)“ eine transformatorische Praxis multipler Identitäten: Ein Mitglied des _ao_ao_jing-Ensembles, die Initiatorin des Weaver Girl-Projekts, Lin Cuixi, hat früher Informatik an der UCLA studiert und arbeitet jetzt in Shanghai als freiberufliche Theaterschaffende mit einem besonderen Schwerpunkt auf interdisziplinären Theaterprojekten. Alice Chen,die Frau des französischen Generalkonsuls, ist auch Künstlerin. Ohne Frage ist das _ao_ao_jing Ensemble ein interdisziplinäres Kollektiv von Theaterkünstler:innen, gegründet und geleitet von hochqualifizierten Frauen. In der Aufführung manipulieren diese offensichtlich ihre Identitäten als soziale und akademische Eliten und werfen die Frage auf: Legitimieren sich die Eliten, die Kontrolle über die Informationsressourcen haben, durch die Schaffung neuer Spielregeln und mit dem Ziel, alle Arten von Emotionen der Öffentlichkeit neu zu definieren und zu regulieren?

Das neue Konzept der "Arbeit der Emotionen" wurde den Teilnehmer:innen des Stücks implizit vermittelt, sobald sie begannen, über die Show nachzudenken. Das Ensemble _ao_ao_jing definiert "die Arbeit der Emotionen" wie folgt: "Im Rahmen der Internet-Ökonomie scheint ein neues Arbeitsverhältnis entstanden zu sein zwischen denjenigen, die emotionale Leistungen gegen Wert tauschen, und denjenigen, die diese emotionalen Leistungen für eine bessere Lebensqualität kaufen. Für diese Arbeiter:innen ist durch das ständige Angebot emotionaler Leistungen für die anderen Mitglieder der Gesellschaft die Grenze zwischen ihrem Selbst und ihrer Rolle irgendwie verschwommen."

Sind die Menschen süchtig danach, durch Technologie zum Diktator ihrer Gefühle zu werden? Inwieweit wird diese Sucht durch die Diktatur im herkömmlichen gesellschaftlichen Machtgefüge beeinflusst?

Auf einer ansonsten traditionellen Bühne, aber ohne vierte Wand, befindet sich ein großer Quader, mit kleinen, unregelmäßigen Nischen, die an Mobiltelefone, den Papierkorb auf der Oberfläche des Computerbildschirms, Dialogboxen in Chatsoftware u. s. w. erinnern. Eine Schauspielerin, die die "virtuelle Existenz" eines gewöhnlichen Stadtbewohners symbolisiert, bewegt sich schnell zwischen den Boxen. Die Schauspielerin wechselt zwischen den verschiedenen virtuellen Identitäten und spricht direkt mit dem Publikum im Theater, oder in meinem Fall, während ich die Videodokumentation des Stücks betrachte, durch den Bildschirm.

"Ich gebe es zu, ich gestehe! Wir alle hatten eine schwere Zeit in diesem Jahr. Wir sehnen uns nach Kontakt und Gesprächen. Wir sehnen uns danach, Gesichter zu sehen und Stimmen zu hören. Abgeschiedenheit ist überheblich, Einsamkeit ist maßlos, und Widerstand ist extrem kindisch – wir müssen Telefone benutzen. Wir haben nur Telefone. Die Größe liegt zwischen fünf und sieben Zoll. Sie liefern Zahlen, Standort, Material, Geist, Wissen und Gemeinschaft. Was brauchen wir sonst noch? Ich scrolle durch mein Telefon. Ich wache um sieben Uhr morgens auf und scrolle durch mein Handy. Ich esse mittags und scrolle durch mein Handy. Ich schlafe um zwölf Uhr nachts und scrolle durch mein Handy. Eines Tages habe ich die Dauer meiner Bildschirmnutzung überprüft. Bildschirmnutzung, diese Funktion sollte als Fehler oder ähnliches deklariert werden. Jedenfalls war es eine Zahl, die meine Vorstellungskraft überstieg. Ich wusste nicht einmal, dass ich meine Augen jeden Tag so lange offenhalten kann. Ich muss es zugeben, ich bin süchtig. Aber ich wusste es! Ich muss es überwinden! Ich muss es besiegen! Ich muss... etwas tun! Dies darf keine Geschichte über Telefone sein, und Telefone dürfen nicht von Anfang bis Ende vorkommen. Alle Telefone, die auftauchen, müssen komplett zerstört werden!"

Ein interessantes Thema: Wie können Theatermacher in China ihre Internetabhängigkeit analysieren und deuten? Vor allem, wenn mehr als die Hälfte der Einkäufe und Zahlungen in China über Apps auf Mobiltelefonen abgewickelt werden und fast alle sozialen Aktivitäten der Generation X online stattfinden.

Ich habe nicht nur die drei Tabs nicht geschlossen, die seit Beginn des Schreibens geöffnet waren, sondern auch noch begonnen, mir eine Videodokumentation anzusehen. Es handelt sich um ein traditionelles Theaterstück namens „JEPG“, geschrieben und inszeniert von He Qi, einem Mitglied der Sleep-less-Theatergruppe, mit einer Dramaturgie von Hu Xuanyi, ebenfalls Mitglied der Gruppe.

Ich versuche mir vorzustellen, wie ich in einem lokalen Theater in Peking sitze und mir dieses Stück anschaue. Ich starre die Schauspielerin auf der Leinwand an: Als Maskottchen der Informationswelt gibt sie ihr Bestes, um die Flexibilität ihres Körpers zu zeigen. Sie ist fleißig. Ihre Körpersprache ist jedoch etwas unbeholfen und ihre Energie scheint durch den Bildschirm blockiert zu sein: Der Prozess der persönlichen Reflexion, wie die Selbstzensur, wenn jemand seine eigene Internet-Historie durchstöbert, das Selbsterregung, wenn jemand auf seine Unterhaltungen in den sozialen Medien zurückblickt, und das Selbstmitleid über seine soziale Isolation in der virtuellen Realität erreicht mich in diesem Fall auf eine konzeptionelle Weise. Mit anderen Worten, es gibt keine neuen Erkenntnisse über das Ringen zwischen der digitalen Identität und den Identitäten im wirklichen Leben zu entdecken.

Aber warum schaue ich mir das Video dann trotzdem an? Was erwarte ich von der Theateraufführung?

Das erinnert mich an meine Erfahrung als Zuschauerin beim ersten Lockdown in Deutschland im April 2020. Damals gab es eine Reihe von kostenlosen Online-Vorführungen klassischer Meisterwerke, die von deutschen Theatern produziert und angeboten wurden. Für mich war es eine neue und spannende Erfahrung, die Stücke online zu sehen. Doch nach zwanzig Minuten vor dem Computer begann meine Aufmerksamkeit zu schwanken und ich wurde abgelenkt. Offensichtlich erfordert die Teilnahme an digitalen Theateraufführungen ein hervorragendes Energiemanagement, und daran mangelt es mir. Eine weitere wichtige Tatsache ist, dass die Stücke zu Beginn des ersten Lockdowns keinen Bezug zum Alltag hatten und ich mich nicht als Zuschauerin identifizieren konnte, weil s ich sie mir zu Hause allein ansah.

Am 25. Dezember 2022 verkündete die chinesische Zentralregierung das Ende ihrer Null-Covid-Politik. Von Januar 2020 bis zu diesem Datum mussten sich alle Einwohner des Landes über eine mobile App registrieren. Ihr täglicher Tagesablauf, ihr persönlicher Gesundheitszustand und ein detailliertes soziales Netzwerk jedes Einzelnen wurden erfasst und in der Datenbank des Landes gespeichert. Dies war obligatorisch. Darüber hinaus wurden Millionen von Beiträgen auf öffentlichen Internetplattformen zensiert und gelöscht, in denen die Ineffizienz der Regierung und der Mangel an medizinischer Versorgung kritisiert wurden. Dabei ging es z. B. um Vorfälle, bei denen die Polizei COVID-19-Patienten gewaltsam unter Quarantäne stellte und in transportable Gebäude sperrte sowie alle möglichen anderen traumatischen Erlebnisse während der totalen Abriegelung. Die Beiträge verschwanden in der Regel innerhalb einer Woche, nachdem sie online veröffentlicht worden waren.

Es ist weithin bekannt, dass die Texte aller Theaterproduktionen und -aufführungen, die in China öffentlich stattfinden, einer Zensur unterzogen werden müssen, bevor sie zur Aufführung zugelassen werden. Im Jahr 2023, nach dem Ende der Null-Covid-Politik, wurde den Theatermitarbeitern mitgeteilt, dass alle negativen Informationen im Zusammenhang mit COVID-19 als "Gedankenviren" gelten. Daher ist es in China unmöglich, COVID-19 und die damit verbundene Politik im öffentlichen Raum zu diskutieren.

Das Stück „JEPG“ erhielt folgenden Kommentar auf Douban ("豆瓣" "Dou Ban", chinesisch), einer kostenlosen Bewertungsplattform für Kultur und Kunst in China: "Das größte Manko des Stücks ist, dass es alle Probleme der Gesellschaft auf die sozialen Medien zurückführt. Das hat mich nicht überzeugt. Die Probleme sind eindeutig vielschichtiger und liegen viel tiefer. Es gibt viele fatale Fehler in den bestehenden sozialen Medien und in unserem sozialen Verhalten. Doch wenn man diese beheben würde, wären die im Stück dargestellten Probleme noch lange nicht gelöst."

Wie ist es möglich, dass das Theaterstück Fragen zur Gesellschaft direkt auf der Bühne aufwirft, wenn es in dem Land überhaupt keine Redefreiheit gibt?

In China erinnert mich die Beziehung zwischen Regierung, Internetnutzer:innen und Theatermacher:innen immer an den Spielklassiker „Snake“ auf dem Handy: Die Schlange verschlingt alles um sie herum mit großen Bissen und beißt sich schließlich selbst den Schwanz ab.

 

Teil II

Am 20. Februar 2023 zeigte mein Browserverlauf drei Tabs an: die Definition von ASMR, ausgewählte Passagen aus Dostojewskis „Weiße Nächte“ und eine Online-Theateraufführung namens „The Fade, the Blue“, die auf Bilibili, der größten Anime-Plattform in China, per Livestreaming übertragen wurde.

Kurz gesagt, ich hatte einen Tagtraum während des einstündigen Livestreams von „The Fade, the Blue“, auch wenn ich versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass ein Traum nicht als solcher definiert werden kann, solange er andauert.

Seit 2020 wurde das jährliche Beijing Fringe Festival um eine neue Sektion erweitert: das Online Theater. Die meisten der in dieser Sektion gezeigten Theaterstücke sind ausschließlich über bestimmte Internetplattformen zu bestimmten Terminen und Zeiten zugänglich. Während der Aufführung können alle Nutzer der Plattform in Echtzeit Kommentare abgeben, die dann über die Bildschirme der Zuschauer flimmern. Ein spezieller Begriff, Dan Mu (Chinesisch "弹幕"), wurde geschaffen, um die fliegenden Kommentare zu beschreiben, die ursprünglich aus dem Anime-Fandom in Japan stammen.

In seinem Buch Postdramatisches Theater behauptet Dr. Hans-Thies Lehmann, dass "das postdramatische Theater ein Theater der Gegenwart ist. Präsenz als Gegenwart zu reformulieren, bedeutet in Anlehnung an Bohrers Begriff des 'absoluten Präsens', sie vor allem als Prozess, als Verb zu begreifen. Es kann weder Objekt, noch Substanz, noch Gegenstand der Erkenntnis im Sinne einer durch die Vorstellung und den Verstand bewirkten Synthese sein."1

In We Don't Have Bodies Yet stellt Paul B. Preciado fest, dass „Wissenschaft, Technologie und der Markt die Grenzen dessen, was heute und morgen ein lebender menschlicher Körper sein wird, neu ziehen. Diese Grenzen werden nicht nur im Verhältnis zur Tierwelt und zu Lebensformen definiert, die historisch als untermenschlich galten (proletarisch, nicht-weiß, nicht-männlich, trans, kriminell, behindert, migrantisch...), sondern auch im Verhältnis zur Maschine, zur künstlichen Intelligenz."2

Wenn Dr. Lehmann, Preciado und ich uns „The Fade, the Blue“ gleichzeitig ansehen würden, hätten wir vielleicht völlig unterschiedliche Meinungen darüber, ob es sich um ein Stück Theaterarbeit handelt. Die Frage ist: Was ist die Präsenz einer Online-Performance, die von den Machern an ein Publikum übertragen wird, das zeitlich und räumlich sowohl von den Machern der Performance als auch von den Szenen der Performance völlig abgekoppelt ist?

Im Allgemeinen werden in „The Fade, the Blue“ zwei Räume präsentiert: Zum einen gibt es ein minutiös gestaltetes, proportional verkleinertes Modell eines Zimmers, in dem eine minutiös gefertigte, proportional verkleinerte Plastikfigur die Hauptfigur spielt - einen schlaflosen jungen Mann, der tagsüber als Bauarbeiter arbeitet. Der junge Mann kann nicht einschlafen. Er möchte seinen Job kündigen und in seinem kleinen Zimmer bleiben. Er liegt auf seinem Bett und scrollt durch sein Mobiltelefon. Es verbindet sich mit einem zweiten Ort - einem Online-Ort - dem ASMR-Livestream einer jungen Frau, die über dem jungen Mann wohnt und vor kurzem nach ihrem Studium im Ausland nach Hause zurückgekehrt ist. Während die ASMR weiterläuft, höre ich ständig die weißen Geräusche und sehe ein Paar gesunder und hochentwickelter menschlicher Hände, die verschiedene Materialien kneten, reiben und zerreißen und dabei Geräusche erzeugen. Das Stück kann auch als Variante einer Stop-Motion-Animation betrachtet werden.

Einige gut gemachte Montagen verbinden das Unterbewusstsein der beiden Figuren: Porträts aus der Kindheit, Fotos aus ihren Jugendzimmern und handgeschriebene Notizen, die zwischen den Nachbarn unter die Tür geschoben werden. Diese Objekte ermöglichen es den beiden Figuren, ihren gemeinsamen Raum in der Vergangenheit zu erforschen. Sie treffen sich schließlich offline, spazieren gemeinsam durch die Nachbarschaft und beginnen, ihre Erinnerungen zu dokumentieren.

Das im Informationszeitalter geborene und harmonisch mit dem Internet koexistierende „The Fade, the Blue“ ist subtil, ätherisch und verkörpert die ästhetischen Muster, die mit der Generation X assoziiert werden. Das Theaterpublikum scheint sich mit einer solch unkonventionellen Theatererfahrung wohlzufühlen und stellt die Gegenwart der Aufführung selbst her: Kommentare, die während der Live-Übertragung gelegentlich auf dem Bildschirm erscheinen, lauten: "Tolle Stimme. Kann jemand einen Radiosender für Schlaflose empfehlen?" ... "Mein persönliches ASMR ist wie folgt...", was zeigt, dass dieses Online-Theaterstück die Zuschauer*innen dazu anregt, in ihren virtuellen Identitäten zu kommunizieren und die Grenzen ihrer eigenen virtuellen Räume neu zu definieren. Erwähnenswert ist zudem, dass aufgrund der temporären Lockdowns und Quarantänen von 2020 bis 2023 die Online-Sozialisierung inzwischen das tägliche Leben der Stadtbewohner:innen in China komplett bestimmt. Die Menschen teilen sich das Mikrofon in Online-Karaoke-Räumen, spielen Online-Spiele in Teams in virtuellen Spielräumen und üben Aerobic mit Trainern in Online-Fitnesskursen. Sie sehen Landbewohnern in abgelegenen Gegenden dabei zu, wie sie Getreide anbauen, Hühner züchten, fischen und Pferden helfen, ihre Hufeisen in Form zu bringen. Sie essen allein, während sie die Live-Ausgaben ihrer Lieblings-Food-Blogger verfolgen, hören Online-ASMR-Sender, und Siri weckt sie auf und ermutigt sie, allein vor dem Schreibtisch zu arbeiten.

In Anlehnung an Dostojewskis Novelle "Weiße Nächte", in der er schreibt: "Jetzt reiche ich dir meine Hand, wirst du mich annehmen?", möchte ich meine Erfahrung beim Betrachten von „The Fade, the Blue“ als „Jetzt reiche ich dir meine losgelöste Hand, wirst du mich annehmen?" beschreiben.

Meine nächste Frage lautet: Wie kann das digitale Theater Interaktivität neu definieren?

Ich hörte zum ersten Mal von dem „Gānbēi“-Projekt im Jahr 2020, als Stage No More an der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund gastierte. Ich kenne Chen Ran, den Gründer und künstlerischen Leiter von Stage No More, ein ehemaliger, für einige Jahre hochrangiger Theaterjournalist in China.

Chen Ran rief mich in Dortmund an und erzählte mir, dass Stage No More gerade Peking, das kurz vor dem Lockdown stand, verlassen hatte und nun seine Residenz in Dortmund begann. Doch dann musste nach zwei Wochen auch das Dortmunder Theater schließen. Die europäischen Künstler kehrten in ihre Heimatstädte zurück und ließen Stage No More allein im Studio zurück.

Aus einem solchen Anlass wurde das Konzept der Online-Sozialisierung geboren. „Gānbēi“ wurde von einem berühmten Gedicht des bekannten Dichters Li Bai inspiriert, der während der Tang-Dynastie lebte:

„I raise my cup to invite the moon who blends her light with my shadow and we’re three friends.3

(Deutsche Übersetzung von Günter Eich: "Das Glas erhoben, lad den Mond ich ein. Mein Schatten auch ist da – wir sind zu dritt." 4)

Li Bai, der für seine literarische Kreativität nach dem Genuss von Alkohol bekannt ist, war nachts angetrunken, hob seinen Becher zum Mond und stieß auf sich selbst an, und dann starrte er auf seinen Schatten, den er als seinen Gefährten wahrnahm.

Während des Aufenthalts an der Akademie für Theater und Digitalität gliederte sich die Recherche von Stage No More in drei Abschnitte: die Geschichte der menschlichen Erforschung des Mondes, die politische Metapher des sozialen Brauchs von Trinksprüchen (Chinesisch: Gānbēi) in verschiedenen Kulturen und die Untersuchung des sozialen Verhaltens an Bildschirmen im Informationszeitalter. Sie stellten daher folgende Fragen: Wie können Menschen ohne physischen Kontakt in Kontakt bleiben? Wie bewegen sich ihre Blicke durch Kameras, Chips und Netzwerke? Welche Veränderungen macht unser Körper durch, um sich an diese kontaktlose Kommunikation anzupassen?

„Gānbēi“ fand in einem abgedunkelten Performance-Raum statt. Das tiefblaue, nicht natürliche Licht beleuchtete einen Darsteller, der in einen weißen Overall gekleidet war, ohne dass seine körperlichen Merkmale sichtbar waren. Er/sie interagierte mit einem Bildschirm, der gleichzeitig das Bild seines/ihres eigenen Körpers zeigte, das von einer Echtzeitkamera auf einem Wall-E-förmigen Roboter aufgenommen wurde. Gleichzeitig erzeugten spezielle Videoeffekte zahllose Spiegelungen des Körpers auf dem Bildschirm, und der Darsteller hob seinen Becher und stieß mit den zahllosen Kopien seiner selbst an. Manchmal bewegte sich der Roboter auch außerhalb des Hauptvorstellungsraums und tastete das Publikum mit seiner Kamera ab. Dadurch wurden die körperlichen Merkmale des Publikums erkannt und in Echtzeit auf die Leinwand projiziert. In diesem Fall wurde die Gegenwart durch die Interaktivität zwischen Kamera, Performer und Publikum zur Gegenwart.

Seit ich das Video gesehen habe, ist mein Körper empfindlicher geworden: Als meine Finger die Tastatur berührten, spürte ich die Unebenheiten und Vertiefungen; ich drückte dieselbe Taste jedes Mal fester und fester. Dann bemerkte ich den Staub, der auf meinem Bildschirm glühte, meine Augen verweilten auf der Kamera und ich starrte sie an. Ich spürte die Hitze des Computers... Am 25. April 2023, als ich zu Hause vor meinem Computer saß, wurde die Befreiung meines Körpers durch die Verbindung zu und die Koordination mit meinem Computer fest besiegelt.

„Gānbēi“ ist nicht nur ein digitales Live-Theaterstück, sondern gilt in der Videodokumentation auch als immersives Online-Theater, welches das Publikum und die Aufführung miteinander verbindet, indem sie den gleichen Status des Alleinseins vor dem Bildschirm teilen und mit anderen Menschen kontaktlos interagieren. In der Tat ermöglicht das Stück mir, meine physische Präsenz zu überdenken und verweist auf das Potenzial des zukünftigen digitalen Theaters: die Eins-zu-Eins-Online-Performance.

Als ich alle Browserfenster schließe und auf die Option zum Herunterfahren klicke, stelle ich fest, dass im Gegensatz zu den Aufführungen, die ich live erlebt habe, alle digitalen Stücke im Internet analysiert und in einer alternativen Kammer in meinem Gehirn gespeichert wurden, durch deren Linse sich meine physische Existenz sowie meine Wohnung plötzlich verändert haben und diese kleiner und dunkler erscheint als zwei Stunden zuvor. Um genau zu sein, habe ich jetzt das Gefühl, dass ich viel informierter und intelligenter bin, wie der äußere Teil eines gigantischen Cyborgs.

Ich bin überwältigt und habe das Gefühl, dass ich mich jetzt vom Bildschirm entfernen muss.


Quellen:

„Ganbei“ von Stage No More
http://stagenomore.com/works/ganbei

„Weaver Girl Projekt“ von_ao_ao_jing
https://aoaoing.com/WeaverGirl-Project

„JEPG“ von Sleep-less Theatre
https://www.sohu.com/a/337842422_827253

 

Fußnoten

1. Hans-Thies Lehmann, Postdramatic Theatre, page 143-144, London: Routledge, 2006.

2. Paul B Preciado, “Notes from a Talk at Glad Day Bookshop”, Toronto, January 22, 2020, mikehoolboom.com

3. Übersetzt von 《月下独酌,original text in Chinese by Li Bai, translated by Xu Xuanchong,Three Hundred Tang Proms, page 171, China Translation & Publishing House. 2021

4. Übersetzung von Günter Eich, zitiert in: Lyrik des Ostens, München, Hanser, 1982, S. 303

Dora (Yuemin) Cheng ist eine dreisprachige Dramatikerin, die seit kurzem in Berlin lebt und arbeitet. Geboren und aufgewachsen in Nanjing, China, schloss sie ihren Bachelor in Dramaturgie an der Shanghai Theater Academy und ihren Master in visueller Sprache der Performance am Wimbledon College of Art mit einem internationalen Vollstipendium für asiatische Studenten ab. Ihr erstes Stück, Ejected, wurde als erste Produktion im Rahmen des neuen Schreibprogramms des Shanghai Dramatic Arts Center präsentiert. Sie nahm auch am Dramatikerprogramm des Royal Court Theatre in London teil. Sie arbeitete als Dramaturgin an der Online-Produktion Qingdao: a messy archive: Deutsche Kolonialvergangenheit in China für das Junge Nationaltheater Mannheim, das von nachtkritik.de für das Theatertreffen 2021 nominiert wurde. Ihr erstes auf Deutsch geschriebenes Stück, Epiphanie 顿悟, stand auf der Shortlist des Theatertreffen Stückemarkt 2022.