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8 Min

20.12.2021

Autor:in

Dr.in Nicola Scherer

Foto

Melanie Zanin

Who cares?

Narrative zeitgenössischer internationaler Theaterfestivals und Kooperationen

Dr.in Nicola Scherer hielt die hier in Auszügen veröffentlichte Keynote anlässlich des Kick Off Wochenendes der ITI Akademie am 3. Dezember 2021. Die Aufzeichnung der Keynote mit anschließender Paneldiskussion ist außerdem hier einsehbar.

Wenn es um diese dystopischen Zeiten geht, kann ein Kick-Off eine Vision – ein Narrativ – gebrauchen, wie sich ein besseres Morgen gestalten lässt. Klingt cheesy? Ich weiß. Aber seien wir ehrlich, als Menschen, brauchen wir das. Daher beginnt diese Keynote mit einem Quote von Rosi Braidotti, die sagt, dass sie sich Sorgen mache um die Zukunft. Sie bezieht sich hier auf den akademischen Bereich, wo es Veränderungen bedarf, ebenso wie in der internationalen Szene der darstellenden Künste. Damit geht für sie auch eine Verantwortung einher, sie beschreibt sich selbst als eine Person, die einer Generation angehört, die einen Traum hatte, und entwirft folgenden, welcher auch für den Bereich der darstellenden Künste inspirierend sein kann:  

„Es war und ist der Traum von wirklichen Gemeinschaften des Lernens: von Schulen, Universitäten, Büchern und Studiengängen, Diskussionskreisen, Theater-, Rundfunk-, Fernseh- oder Medienprogrammen – und später auch Webseiten und Computerwelten –, die so aussehen wie die Gesellschaft, die sie gleichermaßen widerspiegeln, bedienen und aufbauen helfen. Es ist der Traum eines gesellschaftlich relevanten Wissens, das auf Grundprinzipien sozialer Gerechtigkeit eingestellt ist, die Achtung menschlicher Würde und Vielfalt, die Ablehnung falscher Universalismen, die Bejahung der Differenz, das Prinzip der akademischen Freiheit, des Antirassismus, der Offenheit für andere und des Zusammenlebens. […] Ich schlage neue Möglichkeiten vor, Kritik mit Kreativität zu verbinden, das »Aktive« auf politischen »Aktivismus« zurückzubeziehen, in·Richtung auf eine Vision posthumaner Humanität für das globale Zeitalter.“

Rosi Braidotti schlägt neue Wege vor, Kritik mit Kreativität zu verbinden, das „aktiv“ wieder in den „Aktivismus“ zu versetzen und sich einer Vision der posthumanen Menschheit für das globale Zeitalter zuzuwenden. Who Cares? Rosi Braidotti tut es. Sie ist eine Vertreterin des Posthumanismus, der Sozialwissenschaft und der poststrukturalistischen Theorie, die die Epoche, in der wir leben, bereits als posthumanes Zeitalter beschreibt. Gemeint ist mit diesem Begriff das erklärte Ende des Antrophozäns, der Ära, in welcher der Mensch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und global-politischer Entscheidungsprozesse steht. Ich teile diese Vision der dringenden Notwendigkeit zusammenzukommen, Wissen zu teilen, gemeinsam neues Wissen zu gaenerieren, Fehler in unserer Praxis zu machen und gemeinsam zu lernen und zu verlernen. Wir brauchen viele Perspektiven, multiperspektivische Teams, ich glaube fest daran, alleine kommen wir nicht weiter.

These

Im Folgenden werde ich eine These präsentieren, die die wichtige Rolle internationaler Festivals für darstellende Kunst verdeutlicht: 

Internationale Theaterfestivals (Performing Art Festivals/ PAFs) sind politisch relevante Akteure für die internationale Theaterlandschaft. 

  • PAFs verstehen sich als kulturpolitische Akteure, die international kuratieren und lokal vermitteln. Sie bilden innerhalb ihrer kuratorischen Praxis spezifische Profile, durch die sie neue Narrative erzeugen oder mitgestalten. 

  • Sie tragen zum Beispiel dazu bei, das Repertoire an Geschichten zu erweitern, die in den Gastländern des Festivals sichtbar sind. Damit verbunden sind beispielsweise Fragen der Repräsentation verschiedener Ästhetiken, Dramaturgien, Schauspieler:innen und darstellender Kunstpraktiken. 

  • PAFs sind auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene wirksam und tragen zur Vielfalt der darstellenden Kunstlandschaft bei. Bei der Kuration der Festivals werden von den Kurator:innen bewusst (gesellschaftspolitische) Bezüge programmiert. 

Beispiele

Im Folgenden gebe ich Ihnen einige Beispiele in denen sich internationale Theaterfestivals als kulturpolitische Akteure beschreiben lassen und transparent machen, wie internationale Theaterfestivals zu lokal-globalen Diskursen beitragen, Auswirkungen auf lokale Gemeinschaften und internationale Szenen haben. Globale Fragestellungen werden auf unterschiedliche Weise im Kontext der internationalen Festivalpraxis der darstellenden Kunst präsentiert, repräsentiert und dekonstruiert. Innerhalb des letzten Jahrzehnts werden eine Vielzahl globaler Themen innerhalb der internationalen Szene der darstellenden Künste diskutiert, wie zum Beispiel Post-/Dekolonialismus, Feminismus, globale Erwärmung, weltweite Prozesse des Re-Nationalismus oder der Mangel an künstlerischer Freiheit in mehreren globalen Bereichen. Theoretiker:innen wie Nikita Dawan, Judith Butler, Wendy Brown oder Hélène Cixious wurden eingeladen, im Rahmen internationaler Festivals zu sprechen. Durch die Einbeziehung neuer und auch theoretischer Perspektiven in die Konzepte der Kuration und des Festivals selbst profitieren und tragen Festivals zum Diskurs und damit zur Veränderung von Narrativen bei. Die Ausgabe des steirischen herbst 2016 stand beispielsweise unter dem Slogan „Wir schaffen das“. Das kuratorische Konzept bezieht sich auf den politischen Anspruch der ehemaligen Bundeskanzlerin, der in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 mit der Aufnahme von Geflüchteten begann. Neben einer glasklaren politischen Position innerhalb der Eröffnungsrede und dem Programmheft positionierte das Festival sein Festivalzentrum mitten im Grazer Annenviertel, einem Stadtviertel mit hohem Migrationsanteil, das Festivalzentrum wurde „Arrival Zone“ genannt. Das Festival selbst liegt nahe der österreichisch-ungarischen Grenze und findet in einem überwiegend konservativ/rechtsorientierten Umfeld statt. So wird das Festival selbst zur lokalen Opposition. Dies ist nur ein sehr kurzes Beispiel, und doch gibt es bereits mehrere Positionierungsebenen. Erstens die politische Positionierung des Festivals im gesamten kuratorischen Konzept, das Motto/ der Slogan einer Edition sowie das Programm selbst, zweitens die geografische Positionierung des Festivals im regionalen und globalen Kontext, drittens: die Positionierung eines Festivalzentrums und anderer Orte (Programmpunkte fanden beispielsweise direkt an der österreichisch-ungarischen Grenze statt) für künstlerische, diskursive, kulturvermittelnde Programme. Neben konkreten theoretischen Diskursen können Festivals Narrative verändern, indem sie international arbeiten und mitgestalten. Sie tun dies, indem sie neue experimentelle Kunstwerke einladen, durch neue Dramaturgien und Ästhetiken für das lokale Publikum sowie durch Koproduktionen und Kollaborationen. Die internationale Szene der darstellenden Künste ist geprägt von unausgewogenen Machtverhältnissen.

Theaterfestivals als Akteurs-Netzwerk

Die meisten Festivals für darstellende Kunst finden sich im globalen Norden, USA, Nord-/Mitteleuropa, dabei fällt ein Großteil der Infrastruktur, Finanzierung und kuratorischen Entscheidungshoheit – Macht über Ex- und Inklusion – internationaler Praxis in den globalen Norden und damit kommt eine große Verantwortung, sichere Arbeitsumgebungen und nachhaltige Infrastrukturen bereitzustellen, Vielfalt in einer internationalen Landschaft sichtbar und zugänglich zu machen, die eigene Rolle und Formate zu überdenken. Die innovativsten Formate treten nicht unbedingt im Rahmen der großen, bekannten Festivals auf, vor allem an den Rändern passiert interessantes Neues. Zum Beispiel im lokalen Verbund, wie beim BIBAM, studentisch organisierten kleinen Festivals, die gerade erst am Anfang stehen, oder interkulturelle Kooperationen wie PENGO. Ein großer Teil der kuratorischen Arbeit der Zukunft muss ein neues Verständnis von Cultural Leadership sein, das nachhaltige Entscheidungen (siehe z.B. Nachhaltigkeitsziele, gesellschaftspolitische Verantwortung und die Weiterführung von Festivals als lernende Institutionen umfasst, die dazu beitragen, aktuelle Ungleichheiten in internationalen Systemen der darstellenden Kunst zu dekonstruieren und besser wieder aufbauen helfen. Zusammenfassend lassen sich aus der empirischen Forschung heraus diese sechs verschiedenen Wege als bereits bestehende Möglichkeiten und gängige Praxis identifizieren:

1. Internationale (Ko-)Produktion 

2. Kulturpolitische Bezüge in der Kuration und deren Vermittlung 

3. Integration lokaler Szenen und Akteur:innen -> Community Building 

4. Teilnahme an Diskursen 

5. Kreation neuer Narrative, Ästhetiken, Dramaturgien 

6. Repräsentationsraum

Ein Festival funktioniert auf komplexe Weise und ist mit mehreren Entitäten und Akteur:innen verbunden, wie die Grafik internationalen Theaterfestivals als Akteursnetzwerk zeigt. Dies ist keine vollständige Abbildung von Festivals als Akteur-Netzwerk, sondern ein Modell, das für jedes einzelne Festival angepasst und ergänzt werden muss, da jedes Festival sein eigenes einzigartiges Framework hat.

Not a Key, but a Note

Was bedeutet das alles für die ITI-Akademie und das Kuratieren in einer internationalen Szene der darstellenden Künste? Nun, ich habe keinen Key – aber hier ein paar Anmerkungen, was Akteur:innen (als ein/e Einzel-Akteur:in oder als Akteurs-Netzwerk Festival) in Betracht ziehen können: Für jede erhaltene Einladung jemanden oder etwas bedenken, das als nächstes eingeladen werden könnte. Wessen Perspektive ist nicht vertreten? Welche Stimme könnten eingeladen werden gehört zu werden? Welche Kunstwerke oder Theorien sind in diesem Moment wichtig, um sie mit der Community zu teilen, mit der Sie in Kontakt stehen, und wer fehlt noch in dieser Community? Beachten Sie die geografische Positionierung des Festivals selbst. Wir brauchen ein kuratorisches Konzept, das gutes Cultural Leadership, faire Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit in der internationalen Koproduktion und Koproduktion beinhaltet, an unausgewogenen globalen Machtverhältnissen arbeitet, gesellschaftspolitisch relevant ist. Zuhören und das Hineinhören in die Welt als Teil kuratorischer Praxis wurde von Expert:innen des Feldes immer wieder betont. Praktiziere Achtsamkeit, Empathie und Mitgefühl. Teile Macht. Verliere dein Ego. Hinterfrage Formate und die eigene Institution. Seien Sie offen für Misserfolge. Lerne davon. Inbetweens/ Freiräume/ nicht kuratierte Leerstellen lassen. Feiern Sie die vorhersehbare Unvorhersehbarkeit. Arbeiten Sie kollektiv, in multiperspektivischen Teams. Lernen und Verlernen als Team und Institution. Gehen wir zurück auf das Zitat: Lerngemeinschaften konstituieren, gesellschaftlich relevantes Wissen produzieren und mit Grundprinzipien der sozialen Gerechtigkeit, der Achtung des menschlichen Anstands und der Vielfalt, der Ablehnung falscher Universalismen arbeiten; die Bestätigung der Positivität des Unterschieds; die Prinzipien der akademischen Freiheit – der künstlerischen Freiheit – des Antirassismus, der Offenheit für andere und des Zusammenlebens. 

Das war´s. So einfach ist das. 

Sie haben Ressourcen. Sie haben alle Zeit der Welt. Sie tragen die Verantwortung. Und es kümmert sich niemand anderes. 

Das ist das Ende dieser Keynote und nur ein Anfang für den Kick-Off der ITI-Academy – eine Akademie für zukünftige Festivalmacher:innen.

danke.dziękuję bardzo.

ขอบคุณมาก ๆ.bedankt. 


1 Rosi Braidotti: Posthumanismus – Leben jenseits des Menschen, S. 16, f. Campus Verlag, Frankfurt/ New York 2014.

Dr.in Nicola Scherer studierte Bildende und Darstellende Künste, sowie Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste und der Technischen Universität Braunschweig, sowie den Master of Advanced Studies Kulturmanagement an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und Kuratieren in den szenischen Künsten in Salzburg/ München. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit internationalen Theaterfestivals und Kuratieren als kulturpolitische Praxis. Darüber hinaus hat sie mehr als zehn Jahre Erfahrung als Künstlerin, Kuratorin und Kulturmanagerin mit ihrem Kunstkollektiv space ensemble und dessen Ausstellungen sowie durch Projekte im Bereich der darstellenden Kunst und Kunstvermittlung zwischen Berlin, Braunschweig, Wien und San Francisco gesammelt.