Elena Fiebig
Andrea Zagorski im Gespräch mit Yvonne Büdenhölzer und Thomas Engel
Yvonne Büdenhölzer wurde im Mai 2021 zur neuen Präsidentin des ITI gewählt. Mit Blick auf das internationale Netzwerk des ITI beschreiben Yvonne Büdenhölzer und Thomas Engel im Gespräch mit Andrea Zagorski die Brüche und anstehenden Herausforderungen für die transnationale Theaterarbeit.
Die letzten beiden Jahre waren stark von COVID-19 geprägt, wie hat sich die Pandemie auf die internationale Arbeit des ITI ausgewirkt?
Thomas Engel
Das ist schwer einzuschätzen, weil man informativ nur von den jeweiligen nationalen Aktivitäten erfährt, die auch tatsächlich stattfinden können. In einigen Ländern gibt es Resilienzprogramme – wenn es sie gibt –, es gibt die „trotzdem weitermachen“ Parolen, aber letztendlich haben wir kein Bild was tatsächlich in den Ländern passiert.
Man ist zwar faktisch sehr gut informiert und trifft eine Vielzahl von Menschen an den Bildschirmen, aber letztendlich bleiben sie weit weg. Der tatsächliche Austausch, der auf realer Begegnung basiert, der fehlt unglaublich. Das ist, glaube ich, ein Phänomen, was die ganze internationale Arbeit, den Zusammenhalt und auch das solidarische Moment stark unterwandert.
Wenn wir im nächsten Jahr – nach fünf Jahren – den ersten Weltkongress wieder haben, egal in welcher Form, dann werden wir zwar die verpflichtenden Erfordernisse für den Verband regeln und uns von unseren Aktivitäten berichten können, aber kaum nahtlos an die Zeit vor der Pandemie anknüpfen können. Das, wofür die UNESCO und auch das ITI stehen, nämlich für den Prozess der Annäherung, das Definieren von Gemeinsamkeiten und auch das Aushalten von Unterschieden, ist unterbrochen und ich glaube, dass uns das nachhaltig beschäftigen wird.
Lassen sich die Auswirkungen für das Netzwerk konkret beschreiben, wo siehst Du die akuten Defizite?
Thomas Engel
Mit den Projekten in den Nullerjahren haben wir die Differenzen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt, ob religiös oder kulturell oder weltanschaulich. Im ITI engagieren sich sehr diverse Persönlichkeiten. Diversität muss man definieren und aushalten, dazu gehört neben Respekt auch das Wissen um nicht verhandelbare Positionen. Dafür braucht es den Prozess des direkten Kennlernens, bevor man Porzellan zerschlägt und sich wundert, warum etwas nicht funktioniert. Diese Form von Verbundenheit braucht eine Basis, die ein Verband über regelmäßigen Austausch und das Engagement ganz konkreter Menschen in verschiedenen Ländern bieten kann. Diese Verbundenheit lässt sich nicht übertragen, sie wird wohl aus der direkten Begegnung neu wachsen müssen.
Viele digitale Formate versuchen die räumliche Distanz zu überbrücken, künstlerische Arbeiten werden nicht nur präsentiert, sondern auch für digitale Räume konzipiert. Kannst Du die Reichweite und die Zugangsmöglichkeiten für die digitale Nutzung im weltweiten Netzwerk abschätzen?
Thomas Engel
Es gibt ein wahnsinniges digitales Ungleichgewicht in den Zugangsmöglichkeiten und den Erreichbarkeiten. In vielen Ländern gibt es nur sehr limitierten Zugang zu Internetanschlüssen, oft sind Mobiltelefone das einzige Mittel der Wahl. Und auch hier greift die Aufmerksamkeitsökonomie, spektakuläre Auftritte oder politisch besonders brisante Ereignisse werden wahrgenommen, weniger Spektakuläres erreicht uns nicht mehr.
Yvonne Büdenhölzer
Ich kann da in vielen Punkten zustimmen. Digitalität hat Vorteile. Die kann man aber – glaube ich – an einer Hand abzählen. Treffen internationaler Art sind einfacher via digitale Plattformen möglich und inzwischen etabliert. Unnötige Reisen werden vermieden, das finde ich einen Riesengewinn. Aber alles, was über kurze Treffen, ein Meeting, von mir aus auch eine längere Sitzung hinausgeht, ist total flüchtig. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie im Moment verhaftet und sofort wieder weg. Und zweites sehe ich bei allen Menschen, die im kulturellen Bereich arbeiten, diese wahnsinnige Erschöpfung. Die aus der Gesamtsituation resultiert, ohne Sicherheit, ohne Dinge, die man kennt, zu planen und zu arbeiten.
Yvonne, in dieser herausforderten Situation trittst Du die Arbeit als Präsidentin des ITI – Zentrum Deutschland an, welche Themen und Sichtweisen aus Deiner bisherigen Arbeit bringst Du mit?
Yvonne Büdenhölzer
Ich kenne das ITI ja schon länger als Mitglied. Durch Manfred Beilharz bin ich zum ITI gekommen und durch meine Arbeit als Kuratorin für die Biennale „Neue Stücke aus Europa“ habe ich mehr und mehr gelernt, wie wichtig und horizonterweiternd transnationale Theaterarbeit ist und dass es dafür Institutionen und Netzwerke wie das ITI braucht.
Im Zusammenhang mit meiner Arbeit beim Theatertreffen sind Fragen zu Geschlechtergerechtigkeit, aber auch von Nachhaltigkeit auf meiner persönlichen Agenda. Das sind die beiden Themen, die mich seit einiger Zeit massiv umtreiben. Wir werden aber auch weitere Themen wie Diversität und die zukünftige Gestaltung von transnationaler Theaterarbeit in einer Post-Corona Zeit perspektivisch auf der Agenda haben. Ebenso finde ich es wichtig über Zugänglichkeit und Privilegien nachzudenken und den Abbau von Barrieren im Fokus zu haben.
Es war übrigens auch der explizite Wunsch der Mitglieder und des Vorstandes, jünger, weiblicher und diverser zu werden. Ich fand die konstituierende Sitzung des neuen Vorstands sehr inspirierend, besonders in der Unterschiedlichkeit der agierenden Personen. Wir fangen jetzt an zu arbeiten und gemeinsam werden wir auch an einer Vision feilen. So verstehe ich eher meine Funktion als Präsidentin, ich möchte gemeinsam etwas entwickeln, mit dem sich alle identifizieren können und es eine lebendige Zusammenarbeit wird.
Welche Herausforderungen und Themen siehst Du für das ITI national und international?
Yvonne Büdenhölzer
Ich sehe verschiedene Aspekte, die ich persönlich auch wichtig finde. Einerseits die sich verändernde Gesellschaft in Deutschland, die eine Einwanderungsgesellschaft ist. Wir leben in einer diversen Gesellschaft, das zeigen im künstlerischen Bereich auch die Entwicklungen von internationalen Kollaborationen. Da sind wir heute an einem völlig anderen Punkt als noch vor 20 Jahren. Ich finde, dass in Deutschland die Situation für Theater privilegierter ist als in anderen Ländern. Deswegen arbeiten viele internationale Künstler:innen hier, und das finde ich, gilt es im Blick zu behalten und zu fördern.
Und ich finde gesellschaftliche Spaltung, Rechtspopulismus und Ausgrenzung sind akute Herausforderungen, zu denen man Position beziehen muss und die durch die Pandemie eine weitere Verstärkung erfahren werden.
Bei den globalen Herausforderungen werden immer Nachhaltigkeit und Klima als Themen benannt. Das sind aber keine Themen, das ist ein Wandel, ein riesiger Transformationsprozess.
Wie kann man ressourcenschonend handeln und trotzdem internationalen Kulturaustausch ermöglichen? Ich finde es falsch zu sagen, dass internationaler Austausch aus Gründen der Nachhaltigkeit nicht mehr vertretbar ist. Natürlich ist das ökologisch nicht nachhaltig, aber wir müssen ebenso die soziale und gesellschaftliche Nachhaltigkeit im Auge behalten.
Thomas Engel
Diese verschiedenen Aspekte von Nachhaltigkeit empfinde ich gegenwärtig als größte Herausforderungen für Organisationen wie das ITI. Es braucht solche Organisationen, die das langfristig und strategisch weiterverfolgen können, gerade weil sie weltweit in völlig unterschiedlichen Bedingungen verankert sind.
Ich möchte noch auf das Thema Mobilität zu sprechen kommen. Vor der Pandemie wurde viel über den Abbau von Hürden im Zusammenhang mit Mobilität und Visafreiheit gesprochen. Dieses Thema ist unverändert wichtig, wird aber gerade von den Restriktionen, die mit der Pandemie einhergehen, überlagert.
Yvonne Büdenhölzer
In diesem Zusammenhang fragen wir uns beim Theatertreffen gerade ganz konkret, wie ist es eigentlich mit ungeimpften internationalen Künstler:innen oder Künstler:innen, die mit einem in der EU nicht anerkannten Impfstoff geimpft wurden. Wer hat Zugriff auf Impfungen? Werden wir perspektivisch nur noch mit geimpften Künstler:innen arbeiten?
Thomas Engel
Und das schreibt sich z.B. in der Planung des ITI Weltkongress fort. Arrangiert man sich damit, dass auf Grund von fehlenden oder nicht anerkannten Impfstoffen Menschen bestenfalls digital an den Veranstaltungen teilnehmen können? Da gibt es zwar erste Initiativen, die agieren jedoch noch in einem sehr kleinen Rahmen und können keine Mobilitätsgerechtigkeit herstellen. Und wie wirkt sich das auf Festivals aus, die wichtige Knotenpunkte für den künstlerischen Austausch sind?
Da finde ich die Suchbewegungen der Kuratorinnen für Theater der Welt 2023 sehr wichtig. Ihre Fragestellung, wie ein Festival unter dem für sie seltsamen Namen “Theater der Welt” mit den Herausforderungen von heute aussehen kann, wie sie sich von dem tradierten Kuratoren-Prinzip entfernen können und welche Ästhetiken mit der Pandemie einhergehen.
Yvonne Büdenhölzer
Mit ihrem Kodex für das Festival und für ihre Arbeit setzen sie ein Zeichen, dass den Veränderungen Rechnung trägt. Und ich persönlich finde es natürlich auch sehr wichtig, dass es das erste weibliche Team ist. Und erstmalig mit dem Schauspiel Frankfurt, dem Künstlerhaus Mousonturm und dem Museum Angewandte Kunst eine interdisziplinäre Struktur das Festival verantwortet.
Thomas Engel
Ich freue mich, dass wir mit unserer neuen ITI-Akademie dieses Labor begleiten dürfen und die Möglichkeit für einen solchen Lernprozess haben. Theater der Welt muss sich zwar sowieso alle drei Jahre neu erfinden, aber diesmal sind wir alle, wie Yvonne gesagt hat, mitsamt Welt und Theater mitten in einem enormen Transformationsprozess.
Yvonne Büdenhölzer studierte Germanistik und Pädagogik in Bonn und arbeitet als Dramaturgin und Kuratorin. Von 2005 bis 2011 war sie Leiterin des Stückemarkts beim Theatertreffen. In der Spielzeit 2009/10 war sie Kuratorin und Festivalmanagerin der Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden und Mainz. Sie war Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin und Mitglied im Rat für die Künste. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. auf Gendergerechtigkeit, sie initiierte und mitkuratierte „Burning Issues meets Theatertreffen“. 2020 erhielt sie den Berliner Frauenpreis für ihr Engagement für die Chancengleichheit am Theater.
Dr. Thomas Engel ist Theaterwissenschaftler und Dramaturg, der an der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte und als Schauspieldramaturg arbeitete. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum des Internationalen Theater Instituts (DDR) und ab 1992 am gesamtdeutschen ITI-Zentrum, dessen geschäftsführender Direktor er seit 2003 ist.