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15 Min

23.06.2022

Interview

Monika Gintersdorfer & Carlos Martínez

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Knut Klaßen

Von Zuneigung, neuen Sprachen und kalter Bürokratie

Elisabeth Luft im Gespräch mit Monika Gintersdorfer und dem Performer Carlos Martínez über Herausforderungen und die Faszination transkontinentaler künstlerischer Arbeit.

Wodurch zeichnet sich die Arbeit von La Fleur mit Künstler:innen aus anderen Ländern und von anderen Kontinenten aus? 

MONIKA: Wir bleiben langfristig zusammen, wie Ensembles. Da geht mal jemand weg, ist häufiger da oder kommt dazu. Es ist nicht so sehr eine Gaststruktur, sondern wir gehören einfach zusammen, ohne, dass das formalisiert wurde. Das bedeutet nicht, dass wir am selben Ort wohnen oder alle unseren Wohnsitz nach Deutschland verlagern müssen, um Mitglied der Gruppe zu sein.  

CARLOS: Die Arbeit ist für mich durch Zuneigung und gute Organisation geprägt. Erst dadurch können wir zusammenkommen und Begegnungen schaffen, die uns im Leben und in künstlerischen Prozessen weiterbringen. 

Was ist der Kern dieser künstlerischen Arbeit?  

CARLOS: Das Gemeinsame und die Kontinuität stehen für ich im absoluten Mittelpunkt. Aber auch die Themen und reichen Erfahrungen der anderen. Und ohne die Zuneigung zueinander und die Möglichkeit, über Jahre hinweg gemeinsam etwas aufzubauen, könnten wir die vielen Schwierigkeiten nicht überwinden. 

MONIKA: Es ist der Versuch, zu verstehen und zu praktizieren, dass Menschen unterschiedliche Herkünfte und Lebensmittelpunkte zugleich haben können. Und dass es natürlich eine Rolle spielt, wo und mit wem wir gelebt haben, weil sich Mehrfachidentitäten bilden, die nicht auf nationale Grenzen festlegbar sind. Es geht um den Austausch über diese Erfahrungen und um die Übersetzung von Sprache, Inhalt und Bewegung. Darum, neue gemeinsame Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, aber unsere unterschiedlichen Voraussetzungen auch zum Thema zu machen. Die Transkontinentalität ist also nicht nur eine formale Nebenbedingung, sondern Grundvoraussetzung unserer künstlerischen Arbeit. 

Politische, administrative aber auch künstlerische Strukturen sind nach wie vor stark national geprägt. Welche Folgen hat das für die Machtverteilung innerhalb der Gruppen? 

MONIKA: Die Zuordnung zu einem Land wird einem durch die Geburtsurkunde und den darauffolgenden Pass praktisch aufgezwungen. Dieser Pass wiederum legt genau fest, für welche Länder man Visa beantragen kann oder nicht. Menschen aus Europa haben nach wie vor viel bessere Reisemöglichkeiten, können einfacher andere Kontinente besuchen. Das merken wir immer wieder, Einzelne sind beweglicher und flexibler als andere. Sie können Jobs einfach annehmen und sind nur in geringem Maße von Behörden abhängig. Ich brauche für bestimmte Länder auch Visa, bekomme sie aber immer und ziemlich schnell. Andere Gruppenmitglieder müssen unabsehbar lange warten und haben keinerlei Sicherheit darüber, ob es überhaupt klappen wird. Trotz der partiellen und eher theoretischen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte gibt es überhaupt keine Debatte darüber, warum wir uns weiterhin das Recht herausnehmen, die Bewegungsfreiheit anderer Menschen so stark einzuengen.  

Auch auf der Ebene der Förderung macht sich dieses Ungleichgewicht bemerkbar. Als es während der Pandemie die Residenzen gab, mussten KSK-Mitgliedschaften, Adressen oder deutsche Bankverbindungen nachgewiesen werden. Das hatte zur Folge, dass ein Teil der Gruppe von solchen Förderungen ausgeschlossen wurde, obwohl wir alle an denselben künstlerischen Projekten arbeiten. Denn auch Förderung wird national gedacht und verteilt, aber dort gibt es viel mehr Bereitschaft zu kleinen Veränderungen, die hilfreich sein können. Wir versuchen, uns in unserer täglichen Arbeit gegen diese Trennungen und Einteilungen aufzulehnen. Das geht oft aber nur auf informellen Wegen, weil die Strukturen nicht dafür ausgerichtet sind. 

Wie haben sich diese Machtverhältnisse innerhalb der Gruppen während der Pandemie verändert? 

CARLOS: Da wir bei La Fleur alle persönliche Herausforderungen zu überwinden hatten, haben wir weniger versucht, uns gegenseitig zu kontrollieren. Es war ein solches Privileg, den Job machen und hierher nach Deutschland kommen zu können. Wir haben immer noch viel miteinander ausgehandelt, konnten einander aber entspannter zuhören.  

Was ich an dieser Gruppe wirklich liebe, ist, dass der Ausgangspunkt immer die eigenen Erfahrungen und persönlichen Sichtweisen sind. Das hat aber zur Folge, dass es sehr schwer ist, die Rolle einer anderen Person zu übernehmen, wenn diese plötzlich fehlt. Dann verändert sich das Gleichgewicht in der Gruppe automatisch, bei Proben wie bei Vorstellungen. Das ist uns immer wieder passiert. Bei „Nana kriegt keine Pocken“ lese ich den Text von ELCHINO, damit er irgendwie dabei ist. Trotz seiner Abwesenheit ist er dadurch bei uns, dasselbe ist es aber natürlich nicht. 

Was fasziniert Euch künstlerisch an der Arbeit über Länder und Kontinente hinweg? 

MONIKA: Abgesehen davon, dass ich nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern an vielen anderen Orten arbeiten möchte, was auch der Struktur der Gruppe gerecht wird, versuchen wir Verbindungen zu anderen Szenen herzustellen. Zur Couper Decaler Szene in Côte d'Ivoire oder HIV Artivismo in Mexiko. Um ein Zusammenkommen und langfristige Verbindungen zu ermöglichen, Austausch und Chancengleichheit zu fördern. Dabei lernt man viele Dinge, mit denen man nicht gerechnet hat. 

Besonders häufig arbeite ich an Übersetzungsvorgängen, die sich nicht nur auf gesprochene Sprachen beziehen, sondern auch auf Körpersprache, Inhalte und Ästhetiken. All das kennenzulernen und dann nicht stehen zu bleiben und es nur gegenüberzustellen, sondern daraus Hybride zu bilden, etwas Neues, Drittes daraus zu machen, das gibt mir besondere Kraft. 

CARLOS: Zuletzt haben wir mit Gesten gespielt, um eine neue gemeinsame Sprache zu finden. Wir haben versucht, mit dem Körper ein System aufzubauen, dessen Bewegungen die Bedeutung einzelner Wörter haben. Ich erinnere mich an die Wörter „Ich“ und „Huhn“. Ich habe mit Ordinateur und Alex Mugler gearbeitet, die Französisch bzw. Englisch sprechen, und ich spreche Spanisch. Alle versuchten, sich mit nur einer Bewegung auszudrücken und es war sehr interessant zu sehen, wie wir auf Basis unserer unterschiedlichen kulturellen Systeme von Zeichen, Gesten und Sprachen die Wörter bildeten. In der Gruppe zusammen zu kommen ist wie eine dynamische Beschleunigung, durch die in kürzester Zeit Neues entsteht. 

Was ist Euch in der Zusammenarbeit mit den anderen Künstler:innen wichtig? 

MONIKA: Es ist das Dazwischensein. Einige von uns leben zwischen den Kontinenten, auch ich. Man muss sich nicht für einen Ort entscheiden, weil diese Lebensform Inhalt unserer Stücke ist. Künstler:innen müssen ihre Familien an der Cote d'Ivoire, DRC oder in Mexiko nicht aufgeben und können weiterhin Teil der künstlerischen Szene sein, der sie dort angehören. Gleichzeitig prägen sie die Arbeiten in Deutschland maßgeblich. Viele sind bekannte Sänger:innen und Tänzer:innen in ihren Herkunftsländern – warum sollten sie das aufgeben? Die in Deutschland lebenden Mitglieder der Gruppe hätten diese Opfer nicht zu bringen, sie könnten weiterhin mit ihren Partner:innen abends essen, bei Geburtstagen anwesend sein oder sie im Krankenhaus besuchen. Die anderen aber nicht. Sie wären dauernd Gastarbeiter:innen, weil sie in Ländern Auftritte hätten, die ihre Familien und Kolleg:innen aus ihrer künstlerischen Szene nicht sehen könnten. Das würde zu einem sehr seltsamen Verhältnis führen. Mir ist wichtig, dass wir uns immer wieder fragen, wer eigentlich wie viele Opfer dafür bringen muss, um künstlerisch gemeinsam tätig zu sein. 

CARLOS: Wir teilen immer wieder Texte und Meinungen, Gefühle und Strategien. Durch die mentale Verbindung und die Anwesenheit von Monika sind wir immer im Austausch. Es ist, als gebe es einen roten Faden, man fühlt sich als Teil des Prozesses, auch wenn man nicht da ist. Jede:r kann auf seine eigene Weise wachsen und gleichzeitig versuchen wir, auch als Gruppe weiterzukommen. Das Wichtigste ist, dass es nicht sofort fertig sein muss. Dass klar ist, ich werde zur Gruppe zurückkommen, auch wenn ich temporär zu meinem Wohnort zurückkehre. 

Haben sich nach wie vor bestehende Ungerechtigkeiten durch die Einschränkungen der Pandemie verstärkt? 

CARLOS: Ja, in vielerlei Hinsicht. Es gab unterschiedliche Einschränkungen in unseren Ländern und das veränderte sich immer wieder: ob und welche Impfung wir brauchen oder welches Verfahren es für ein Visum gibt und wie lange es dauert. Wir mussten sehr aufmerksam sein und darauf achten, dass es unsere Arbeit nicht so sehr beschädigt. 

MONIKA: Es ging ein unheimlicher Riss durch die Gruppe. Diejenigen, die schon eine Aufenthaltsgenehmigung hatten, konnten reisen. Alle anderen nicht, selbst wenn sie ein gültiges Visum hatten. Dadurch sind sich die Leute, die sonst zusammenspielen, einfach nicht mehr begegnet. Das erstickt eine Produktion natürlich. Es hat ziemlich lange gedauert, bis sich das wieder geändert hat, auch die kontinuierliche künstlerische Arbeit hat unter dieser Verzögerung gelitten.  

Mit Gintersdorfer/Klaßen haben wir 2005 begonnen transnational zu arbeiten. Da sind langjährige Beziehungen entstanden, die man nicht aufgibt, nur weil es Schwierigkeiten gibt. Also haben wir im öffentlichen Raum gearbeitet und versucht, uns online mit den anderen in Mexiko oder Los Angeles zusammenzuschalten. „Our love goes to the absent performers“ haben wir draußen auf einem Rasenstück vor dem HAU in Berlin gespielt. Die Liveschalte zu den anderen klappte aber nur manchmal, es gab viel Frustration.  

Haben sich auch neue künstlerische Möglichkeiten ergeben?  

CARLOS: Als ich den Text von ELCHINO übernommen habe, weil er seine Papiere nicht bekommen und nach Deutschland einreisen konnte, ergab sich auf inhaltlicher Ebene eine neue Möglichkeit: Der Text kritisiert die Hürden, die die Visavergabe für Schwarze Menschen und People of Colour schafft. In dem ich den Text sprach, konnte ich zeigen, dass mein Freund aufgrund dieser Politik nicht nach Deutschland kommen und arbeiten konnte. 

MONIKA: Es kam auch vor, dass eine Person, die nicht vor Ort war, den anderen Anweisungen gegeben hat. So gab es auch die performative und physische Dimension. Aber das stößt schnell an Grenzen. Personen, die sich nicht am selben Ort befinden, kriegen ihre zehn Minuten, wenn das Internet gut genug ist. Gleichberechtigter Teil der Performance können sie damit aber nicht sein, weil es immer von den technischen Gegebenheiten abhängig ist. Gedruckte Texte oder Voraufzeichnungen umgehen dieses Problem, haben aber den Live-Charakter nicht. 

Natürlich sind auch viele neue technische Möglichkeiten entstanden, plötzlich standen den Theatern mehr Übersetzungssysteme zur Verfügung, zum Beispiel das Streaming. Das Publikum muss jetzt nicht mehr nur lokal sein, auch Menschen in Kinshasa oder Abidjan können die Aufführungen sehen. Dadurch ist eine stärkere Internationalisierung möglich. 

Wie verändert das den Austausch zwischen Ländern und Kontinenten? 

MONIKA: Es ist interessant, wenn plötzlich jemand aus Kinshasa eine Kritik über eine Aufführung in Bremen oder Oberhausen schreibt. Dann lesen das die Menschen vor Ort und merken, dass diese Aufführungen transnational gedacht sind, sich direkt an sie richten und mehrsprachig sind. Für uns verändert das viel, weil es uns immer schon wichtig war, unterschiedliche Publika an verschiedenen Orten zu haben. Die Förderinstrumente und administrativen Bedingungen lassen aber nicht immer zu, dass die Aufführungen so gleichberechtigt an verschiedenen Orten gezeigt werden, wie wir es gern hätten. Durch die technischen Möglichkeiten braucht es nicht sofort die physische Präsenz, damit dieser Austausch beginnen kann. Das ist ein großer Gewinn und ermöglicht eine andere Nähe und Verbundenheit zueinander.  

Die Förderung müsste also flexibler werden und die Bedingungen transnationaler Zusammenarbeit stärker berücksichtigen. Was genau wäre das?

MONIKA: Ich würde mir wünschen, dass die kontinuierliche Zusammenarbeit gefördert wird. Dafür braucht es eine großzügigere Visavergabe und mehr Autonomie, vor allem für transnationale Gruppen. Dass die Entscheidungsgewalt nicht hauptsächlich bei Förderern, Institutionen oder bestimmten Festivals liegt.  

Bisher müssen wir unsere Förderungen immer bis auf den letzten Cent ausgeben. Das heißt, wir werden niemals etwas haben, um investieren oder Absicherung schaffen zu können. Unsere Arbeit wäre auch so viel einfacher, wenn wir durchgehend eine feste Gästewohnung bezahlen könnten, damit Leute nicht so oft hin und her reisen müssen. Das wäre auch günstiger und klimafreundlicher. Man könnte Netzwerke aufbauen und sich mit anderen Orten auf der Welt verbinden, um Proben- und Wohnräume längerfristig untereinander verteilen zu können. Solche Möglichkeiten finde ich spannend und ich denke, dass sich durch die Pandemie gerade viel verändert: Künstler:innen können sich länger an einem Ort aufhalten, es wird nicht mehr nur in Proben und Aufführungen gedacht, plötzlich spielen auch die Recherche und das Arbeiten in Serien eine Rolle.  

Außerdem würde ich mir immer mehr „oder“-Regelungen in Förderanträgen wünschen: Dass der KSK-Nachweis oder eine Aufstellung der Einkünfte oder Programmhefte einzelner Produktionen eingereicht werden können. Denn eigentlich geht es doch um die Bestätigung, ob jemand wirklich künstlerisch als Teil der Gruppe tätig ist. Unsere Arbeitsbedingungen würden so enorm erleichtert und die Grenzziehung nicht so hart vorgenommen. Das würde dazu führen, dass Gruppen wirklich transnational sein können.  

Monika Gintersdorfer arbeitet mit Theater-, Tanz- und Performancekünstler:innen aus der ganzen Welt, über Länder und Kontinente hinweg. Diese transnationale Zusammenarbeit begann 2005 mit der Gruppe Gintersdorfer/Klaßen, 2016 gründete sie die Gruppe La Fleur, gemeinsam mit dem Performer und Choreografen Franck E. Yao. 2022 erhält die Regisseurin den Preis des ITI Deutschland.  

 

Carlos Gabriel Martínez, geboren in Mexiko, hat zwanzigjährige künstlerische Forschungserfahrung in zeitgenössischen szenischen Schöpfungsprozessen, Hauptinteresse ist dabei die Untersuchung des sozialen Körpers. Die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen internationalen Gruppen führte Martínez in 19 verschiedene Länder. Seit 2016 arbeitet er mit der Gruppe LA FLEUR zusammen und ist nach „Die selbsternannte Aristokratie“ nun am Theater Bremen mit „Nana kriegt keine Pocken“ in der zweiten Performance zu sehen. (Quelle: https://www.lafleur.direct/de/bio/carlos-gabriel-martinez-velaquez