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29 Min

20.02.2023

Text

Alla Shenderova

Abbildung

Monika Huber

Das Jahr, in dem ich das Leben (wieder-)entdeckte

Dieser Text ist ein Versuch, meine Gefühle und Erfahrungen zusammenzufassen.

Monika Huber - Archiv Einsdreissig #547_14022
© VG Bild-Kunst

Name "Regisseur"


Etwa eine Woche nachdem begonnen hat, was in Russland immer noch nicht benannt werden darf, wurde klar, dass der Krieg nicht nur die Ukraine betrifft. Er richtet sich auch gegen das eigene Volk – gegen diejenigen, die noch nicht von der Propaganda "betäubt" sind. Und ich begriff, dass ich ein Buch über das Aufblühen des russischen Theaters in den letzten fünfzehn Jahren schreiben musste, weil die Errungenschaften des Theaters seit dem Beginn des Krieges allmählich zerstört werden: Regisseur:innen werden entlassen, ihre Aufführungen eingestellt. Wenn aber Inszenierungen von Regisseur:innen, die gegangen sind oder entlassen wurden, im Repertoire verbleiben, sehen die Theaterprogramme sehr merkwürdig aus: Hinter dem Wort "Regisseur" steht statt eines Namens "REGISSEUR".

Es ist noch nicht das volle Grinsen, sondern bisher nur das Lächeln des Totalitarismus.

Es ist noch nicht das volle Grinsen, sondern bisher nur das Lächeln des Totalitarismus.

Das Grinsen war da, als Wsewolod Meyerhold, der 1939 erschossen wurde, damals von allen Gruppenfotos verschwand; nicht nur von sowjetischen Fotos, sondern auch von vorrevolutionären. Sein Name und sein Bild wurden bis in die 1960er Jahre aus der Geschichte und aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt. Durch einen seltsamen Zufall wurde im Februar 2022 das Meyerhold-Museum wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Auch das ehemalige Meyerhold-Zentrum in Moskau, ein Ort, an dem viele unabhängige Projekte entstanden, wurde komplett umgestaltet.

 

Gemütlichkeit


Ein paar Wochen später traf mich eine zweite Welle: Die Nachricht von den Gräueltaten in Bucha wurde bekannt.

Ich veröffentlichte einen Appell dazu in den sozialen Medien, in dem ich vorschlug, dass wir, wenn wir Angst hätten, zu Kundgebungen zu gehen, zumindest eine Schweigeminute für die Opfer einlegen sollten. Ich empfahl, dies vor oder nach einer Theateraufführung zu tun. Zu der Zeit fand in Moskau das Festival Die Goldene Maske statt. Meine Kolleg:innen hielten meinen Vorschlag für brutal. Eine Schweigeminute vor den Aufführungen könnte das ganze Festivalerlebnis verderben. Außerdem warfen sie mir vor, ich würde mit dieser Idee das Theater seiner Möglichkeit berauben, gute Aufführungen zu zeigen. Nur eine Choreografin erklärte, dass sie bereit sei, meinem Vorschlag zu folgen. Am nächsten Tag verschwand ihre Show aus dem Festivalprogramm – „aus technischen Gründen".

Danach kam mir das erste Mal der Gedanke, dass ich aus Russland weggehen musste – um meinen Beruf zu retten. Jede Rezension einer russischen Theateraufführung musste in Bezug zur aktuellen Realität gesetzt werden. Und unsere aktuelle Realität ist eine Katastrophe. Aber wer würde meine wöchentliche Zusammenfassung von Theaterkatastrophen veröffentlichen?

Danach kam mir das erste Mal der Gedanke, dass ich aus Russland weggehen musste – um meinen Beruf zu retten. Jede Rezension einer russischen Theateraufführung musste in Bezug zur aktuellen Realität gesetzt werden. Und unsere aktuelle Realität ist eine Katastrophe. Aber wer würde meine wöchentliche Zusammenfassung von Theaterkatastrophen veröffentlichen?

Ich habe keine Erfahrung mit Immigration. Wenn ich früher meine Heimat verließ, dann immer nur für einige Monate, zum Beispiel als ich mit einem Fulbright-Stipendium im Ausland unterrichtete. Da wusste ich aber immer, wann ich zurückkehre. In dieser Zeit begann ich auch, aus der Ferne online als Redakteurin für die Zeitschrift Teatr zu arbeiten. Am 22. März 2022 endete diese Arbeit dann – Teatr wurde aus politischen Gründen geschlossen.

Der Blog, in dem Theaterkritiken veröffentlicht werden, ist jedoch noch aktiv. Seit acht Monaten redigiere ich den Blog, ohne dafür bezahlt zu werden. Als ich mich fragte, warum ich das immer wieder mache und warum auch so viele verschiedene Autor:innen bereit sind, ihre Artikel kostenlos zu veröffentlichen, wurde mir klar: Wenn man sein Zuhause mit dem Komfort und der Sicherheit verliert, wird die Arbeit irgendwie zum neuen Zuhause.

Wenn man sein Zuhause mit dem Komfort und der Sicherheit verliert, wird die Arbeit irgendwie zum neuen Zuhause.

So las ich in Moskau morgens, gleich nach dem Aufwachen und Füttern der Katze Artikel von angehenden Autor:innen. Noch vor dem Frühstück machte ich einige Anmerkungen zu dem Text und schickte sie an den/die Autor:in zurück. Dann bat ich gewöhnlich um den nächsten Text, und erst dann begann mein Tag.

Die Neujahrsfeierlichkeiten in Russland beginnen immer am 30. Dezember und dauern zehn Tage. Theaterpremieren finden in dieser Zeit nur selten statt. Man trinkt, schläft, geht zu anderen nach Hause und sieht sich Serien an. Es war immer unwahrscheinlich, in diesen ersten Tagen des Jahres einen Text von einem/r Autor:in zu bekommen. In diesem Jahr hat sich das geändert. Seit dem 2. Januar überschwemmen mich die Autor:innen mit Texten, obwohl alle wissen, dass es keine Honorare mehr für ihre Arbeit gibt. Wahrscheinlich schreiben diejenigen, die nicht mehr in Russland sind, um mit den russischen Leser:innen und der russischen Sprache in Kontakt zu bleiben. Diejenigen, die in Russland geblieben sind, versuchen, sich über Wasser zu halten: Die Arbeit hält sie davon ab, die Nachrichten zu lesen und darüber nachdenken zu müssen, was vor sich geht. Die Arbeit ersetzt also nicht nur für diejenigen, die weggegangen sind, das Zuhause. Es scheint, dass sie für uns alle zur einzig verbleibenden Komfortzone geworden ist. Nicht materieller, sondern intellektueller Komfort.

Die Arbeit ersetzt also nicht nur für diejenigen, die weggegangen sind, das Zuhause. Es scheint, dass sie für uns alle zur einzig verbleibenden Komfortzone geworden ist. Nicht materieller, sondern intellektueller Komfort.

Angst


Habe ich Angst, von meinen Leser:innen vergessen zu werden? Ja, die habe ich. In der jetzigen Situation verstehe ich noch weniger als früher, wer sie eigentlich sind. Aber wer auch immer sie sein mögen, ich will sie nicht belügen. Ich will nicht die Premieren der russischen Staatstheater beschreiben und so tun, als ob nichts los wäre.

Ich kann sehr deutlich sehen, was in der Kulturszene Russlands vor sich geht. Diejenigen, die geblieben sind, nehmen begeistert die Plätze derer ein, die gegangen oder entlassen worden sind. Natürlich sind nicht alle von ihnen "Kollaborateure". Und nicht nur in den Staatstheatern werden Plätze frei. Unsere gesamte kulturelle "Nation" ist gespalten. Wie werden wir uns je wieder vereinen?

Unsere gesamte kulturelle "Nation" ist gespalten. Wie werden wir uns je wieder vereinen?

Ich spreche kein Deutsch und ich verstehe die deutsche Gesellschaft nicht sehr gut. Ich habe jedoch von Anfang an eine sehr große Unterstützung auf allen Ebenen erfahren. Vom MICT, ITI und deutschen Kritikerkolleg:innen bis hin zu meinem Vermieter in Neukölln, bei dem ich ein Zimmer gemietet habe. Dennoch ist mir klar, dass ich wahrscheinlich nicht an den Punkt gelangen werde, auf Deutsch so flüssig zu schreiben wie auf Russisch. Kann ich also eine russische Kritikerin bleiben?

 

Hürden
 

Momentan teile ich meine Zeit wie folgt auf: Ich unterrichte Student:innen (online und offline) oder ich lerne selbst. Ich lerne Deutsch und verbessere mein Englisch. Ich lerne zu sagen, wer ich bin und wo ich herkomme. Das erinnert mich an die Zeit, als ich sechs Jahre alt war und meine Mutter mir von meinen jüdischen Wurzeln und dem Holocaust erzählte. Sie riet mir, niemandem von meiner Herkunft zu erzählen, "weil die Leute keine Juden mögen". Seitdem habe ich versucht, es allen zu erzählen, um meine Angst und die innere Barriere zwischen mir und anderen Menschen loszuwerden. Jetzt wiederholt sich diese Situation: Ich spüre eine neue Barriere, wenn man mich fragt, woher ich komme. Dann halte ich inne. Ich sammle mich und sage: "Ich bin Russin. Ich komme aus Moskau".

Diese Art, wie ich in Gesprächen mit meiner Herkunft umgehe, stammt aus einer Situation im späten Frühjahr 2022. Damals saß ich im Bus von Moskau nach Riga. Statt der üblichen neun Stunden Fahrt waren wir länger als einen Tag unterwegs. Wir standen an der lettischen Grenze; im Bus befanden sich Flüchtlinge ohne Visum. Während sie abgefertigt wurden, gingen uns Essen und Wasser aus. Die einzige Möglichkeit, etwas zu essen oder zu trinken zu erwerben, waren Automaten. Ich konnte nichts kaufen, weil meine russische Bankkarte nicht mehr funktionierte. Die Ukrainer:innen bemerkten das und fragten, ob sie mir aushelfen könnten?

- „Ihr müsst mir nichts kaufen. Ich komme aus Moskau.“

- „Und wir sind aus Charkiw. Sagen Sie mir, was für einen Kaffee möchten Sie.“

Im Herbst 2022 leitete ich einen Theaterworkshop an der Ruhr-Universität Bochum. Ich nannte ihn "postdramatisch, postsowjetisch und postkolonial". Meine Studentinnen waren junge polnische Frauen, die ein bisschen Russisch sprachen. Also erzählte ich ihnen von der Kunst in den postsowjetischen Ländern und sprach dabei einen Mix aus Englisch und Russisch. "Wir wissen nichts über das Theater östlich von Polen. Wir haben keine Informationen", beschwerten sie sich. Am meisten interessierten sie sich für meine Erzählungen über die neue Generation von Regisseurinnen. Es gab keine Barriere zwischen uns. Ehrlich gesagt, vermisse ich diese Studentinnen sehr.

Auch an der Europäischen Humanitären Universität Vilnius, an der ich Theatergeschichte für angehende Schauspieler:innen unterrichte, gibt es keine Probleme oder Barrieren. Es sind hauptsächlich junge Belaruss:innen, aber auch Russ:innen und Ukrainer:innen. Ich unterrichte auf Russisch. Einige Student:innen antworten in ihrer Muttersprache, aber wir haben gelernt, uns gegenseitig zu verstehen.

Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber hier in Deutschland habe ich nur mit Russ:innen Kommunikationsbarrieren. Wir sind immer noch nicht in der Lage, uns zu vereinen. Zu anfällig für Hierarchien, versuchen wir, die Menschen in schlecht und gut einzuteilen.

Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber hier in Deutschland habe ich nur mit Russ:innen Kommunikationsbarrieren. Wir sind immer noch nicht in der Lage, uns zu vereinen. Zu anfällig für Hierarchien, versuchen wir, die Menschen in schlecht und gut einzuteilen.

Einige Stimmen von außen und innen

 

Um meine Gefühle zu erforschen, habe ich mit Freund:innen gesprochen, von denen einige gegangen und andere zurückgeblieben sind. 

 

Timofey Kuliabin (Berlin-Sofia-Wuppertal, etc.): "Wir retten uns selbst."

Er ist der Regisseur des berühmten "Tannhäuser" (2015) am Nowosibirsker Opern- und Balletttheater. Die Aufführung wurde gleich nach der Premiere abgesetzt - wegen "Beleidigung der Gefühle von Gläubigen". Es war eine Initiative von Wladimir Medinskij, dem damaligen Kulturminister. Von diesem Zeitpunkt an trug der achtunddreißigjährige Kuliabin das Stigma des "obersten Gotteslästerers". Dennoch gelang es Kuliabin, zahlreiche Werke in den Bereichen Oper und Schauspiel zu schaffen. 2017 wurde Kuliabin eingeladen, "Rigoletto" am Wuppertaler Opernhaus zu inszenieren. Seitdem verbindet er seine Arbeit in Europa mit der künstlerischen Leitung des Theaters Rote Fackel in Novosibirsk. Im Frühjahr 2022 war Kuliabin gezwungen, seinen Posten aufzugeben. Im Dezember 2022 wurde sein Vater, der hervorragende Intendant Alexander Kuliabin, der die Rote Fackel dreiundzwanzig Jahre lang geleitet und zu einem der besten Theater des Landes gemacht hatte, aus dem Theater entlassen. 

Alla Shenderova

Was hat sich in Deiner Arbeit verändert, seit Du nach Europa gezogen bist?

Timofey Kuliabin

Im Grunde genommen habe ich in den letzten sechs Jahren häufig in Deutschland und der Schweiz gearbeitet. Ich kann sagen, dass sich für mich – formal gesehen – nicht viel verändert hat. Vielleicht abgesehen von der Tatsache, dass in Europa die Probenzeiten für eine Produktion kürzer sind als in Russland.

Alla Shenderova

Vor dem Krieg bist Du nach der Premiere immer nach Russland gefahren.

Timofey Kuliabin

Früher habe ich zwischen den Produktionen Pausen gemacht, und ich konnte meine Projekte in Russland in Ruhe ausarbeiten. Jetzt gibt es für mich keine Möglichkeit mehr, dort zu arbeiten und zu leben. Dafür gibt es hier Theater, die sagen: Komm, du kannst bei uns gleich im Anschluss starten. Und das schätze ich sehr. Der Grund ist: Ich brauche etwas, wovon ich leben kann und wo ich wohnen kann. Ich habe keine Wohnung in Europa: Ich ziehe von einem Probensaal zum anderen, und von einer Dienstwohnung zur anderen.

Alla Shenderova

Wie hältst Du das aus?

Timofey Kuliabin

Seit Februar 2022 habe ich ständig Probleme mit Geld, Karten, Visa usw., und habe eine gewisse Resilienz entwickelt. Das ist alles sowieso etwas Unbedeutendes, verglichen mit dem, was mit Millionen anderen Menschen gerade geschieht. Meine Arbeit ist meine Lieblingsbeschäftigung und ich versuche meine Energie vernünftig zu verteilen.

Alla Shenderova

Ist es für Dich einfacher mit russischen Künstler:innen zu proben?

Timofey Kuliabin

Nein, da gibt es fast keinen Unterschied. Ich probe normalerweise auf Englisch, und fast immer ohne Dolmetscher:in. Aber die Sprachgrenzen werden ohnehin überschätzt: Die Menschen im Theater sprechen überall eine Sprache, weil sie in gleichen Strukturen leben und arbeiten.

Alla Shenderova

Vermisst Du die Heimat?

Timofey Kuliabin

Dafür lasse ich mir keine Zeit oder Gelegenheit. Sonst würde es mich auffressen. Man kann klagen, so viel man will, aber das bisherige Leben ist sowieso vorbei. Gleich zu Beginn des Krieges war mir klar, dass es für mich kein Zurück gibt. Als der Krieg begann, inszenierte ich gerade ein Stück an der Prager Oper. Das heißt, ich bin nicht weggegangen, ich bin nur nicht zurückgekommen. Wenn man abreist, muss man irgendwie packen und dann über die Grenze gehen. Da ich aber schon weg war, habe ich nur den Schritt zurück nicht gemacht. Das ist einfacher.

Alla Shenderova

Beruflich geht es Dir in Europa gut, das ist kein Problem. Unter welchen Bedingungen würdest Du zurückgehen?

Timofey Kuliabin

Ich glaube nicht, dass eine solche Situation eintreten wird. Wie soll man sich das vorstellen? Morgen ist der Krieg zu Ende, und die Beamten geben mir das Theater zurück? Das Problem ist, dass ich nicht in der Lage sein werde, das, was in diesem Jahr mit uns allen geschehen ist, aus meinem Gedächtnis zu löschen. Und schließlich habe ich das Theater über einen langen Zeitraum aufgebaut: Ich habe ab 2006 an der Roten Fackel gearbeitet, seit 2015 als Chefregisseur. Und in einer Sekunde war alles zerstört. Wenn ich dort etwas wieder aufbauen werde, kann mir jemand garantieren, dass es nicht wieder zerstört wird? Nein. Wie es sich herausstellt, ist in Russland niemand vor irgendetwas gefeit.

... Ich glaube nicht, dass mein Beispiel repräsentativ ist. Wir alle befinden uns in unterschiedlichen Situationen. Für einige von uns ist es eine tragische Lebenswende, andere finden darin eine Möglichkeit für einen Neuanfang. Aber wir sind alle auf irgendeine Weise unglücklich und scheinen zu versuchen, zusammenzuhalten. Und wir sind trotzdem alle Individuen. Man kann nicht sagen, dass jetzt die gesamte progressive russische Theatergemeinde nach Europa gezogen ist und alle damit zufrieden sind. Wir sind immer noch dabei, uns selbst zu retten.

Man kann nicht sagen, dass jetzt die gesamte progressive russische Theatergemeinde nach Europa gezogen ist und alle damit zufrieden sind. Wir sind immer noch dabei, uns selbst zu retten.

Vsevolod Lissovsky (Moskau): "Brecht in der Straßenbahn rezitieren".

Er ist ein berühmter russischer Grenzgänger, der schon an den künstlerischen Bewegungen der 1990er Jahre beteiligt war. In den 2000er Jahren wurde er ein unabhängiger Performer und Theaterregisseur, der zweimal mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wurde. Als der Krieg begann, führte Vsevolod in den U-Bahnen Auszüge aus Brechts "Furcht und Elend im Dritten Reich" auf. Nachdem dieses Interview geführt wurde, wurde Vsevolod auf der Straße verhaftet und zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Inzwischen wurde seine Haft um weitere zwei Wochen verlängert. Die offizielle Begründung lautete "Ungehorsam gegenüber der Polizei". Soviel ich weiß, hat er keinen Ungehorsam begangen.

Alla Shenderova

Wie arbeiten Sie jetzt in Moskau?

Vsevolod Lissovsky

Jetzt ist die Realität viel interessanter als die Kultur. Deshalb hat sich meine Einstellung zu jeglichen Kunstwerken geändert. Es ist jetzt sehr schwierig irgendeine Art von Performance zu machen. Und es ist einem egal, ob sie gut oder schlecht ist. Es ist nicht mehr wirklich wichtig. Kunstwerke haben zu viel Konkurrenz von der Realität: Man kann die Realität nicht überbieten. Also denkt man über einige Ereignisse nach, die Teil der Realität sein könnten - in dem Maße, wie man diese Realität kontrolliert.

Kunstwerke haben zu viel Konkurrenz von der Realität: Man kann die Realität nicht überbieten. Also denkt man über einige Ereignisse nach, die Teil der Realität sein könnten - in dem Maße, wie man diese Realität kontrolliert.

Es gibt eine akute kognitive Dissonanz, aber es gibt keinen Algorithmus, wie man sie überwinden kann. Aber im Großen und Ganzen habe ich, weil ich nicht in irgendwelche Institutionen eingebunden war, keine besondere Veränderung in meinen Aktivitäten gespürt.

Alla Shenderova

Jedes Mal, wenn Du eine Brecht-Performance in der U-Bahn aufführst, wirst Du von der Polizei aufgegriffen.

Vsevolod Lissovsky

Ein paar Mal, ja. Als sie anfingen zu "gestikulieren" [wirklich grausam zu sein - A.Sh.], haben wir gestoppt. Aber die Performance ging weiter. In sechs Monaten haben wir drei Szenen gemacht (insgesamt hat Brechts Stück vierundzwanzig Szenen). Jetzt werden wir es an einem freien Theater aufführen [der Name wurde aus Sicherheitsgründen nicht genannt - A.Sh.]. Es hat uns Spaß gemacht, mit Brecht herumzuspielen, und wir werden das auch weiter tun. Tatsächlich hat der Besitzer des freien Theaters für mich die Kaution bei der Polizei hinterlegt. Also habe ich beschlossen, ihm das mit einer Aufführung zurückzuzahlen.

Alla Shenderova

Wie hoch war die Strafe?

Vsevolod Lissovsky

Fünfzig [fünfzigtausend Rubel, etwa 400 Euro - A.Sh.].

Alla Shenderova

Nun hast Du zwar die Möglichkeit deine Performance zu zeigen, doch es ist unwahrscheinlich, dass ein freies Theater dafür zahlt. Wie verdienst Du Geld?

Vsevolod Lissovsky

Momentan verdiene ich kein Geld. Ich hoffe auf gelegentliche Auftritte. Ja, ich bin am Verhungern. Aber das ist kein großer Unterschied zu der Zeit vor dem ganzen Schwachsinn. Ich kann nicht behaupten, dass ich an den großen Häusern gefragt war.

Alla Shenderova

Entschuldige, Seva, Du weißt, dass Du zwei Goldene Masken bekommen hast? Du warst schon ziemlich gut.

Vsevolod Lissovsky

Dennoch habe ich keine teuren Aufträge bekommen. Diese Goldenen Masken gehören zu einem anderen Leben. Jetzt bin ich ein einfacher freier Künstler. Neben Brecht werde ich im Frühjahr ein Kabarett mit dem Titel "Nur nicht drüber reden" (Trash-Songs) machen. Es gibt jedoch ein großes Problem: Ich bin sehr unzufrieden mit dem langen Probenzeitraum. Wir haben zur Vorbereitung eine Gruppe gegründet, die sich Chronicles nennt, allerdings kann sich die Realität bis April so sehr ändern, dass unsere ganze Kabarett-Sache, die ziemlich kompliziert ist, irrelevant wird.

Alla Shenderova

Warum ziehst Du nicht ins Ausland?

Vsevolod Lissovsky

Ich bin nicht mehr so unfrei, wie ich es früher war. Die Repressionen gegen mich sind noch nicht so schlimm, und ich lasse mich nicht von Polizist:innen oder Bußgeldern einschüchtern. Trotzdem bin ich nicht zurückhaltend, ich mache, was ich will. Zum Beispiel rezitiere ich Brechts Gedichte in der Straßenbahn. Oder wir stellen uns gegenseitig Fragen aus Sokrates' Dialog "Über den Staat". Generell machen wir, was wir wollen.

Alla Shenderova

Wie reagieren die Leute in den Straßenbahnen?

Vsevolod Lissovsky

Wie üblich: Manche hören zu, manche ignorieren es. Einige reagieren entrüstet: Schluss damit. Ob Bürger:innen oder Polizist:innen, Aufreger ist meist eindeutige Agitation. Wenn sie etwas Komplexeres sehen, sind sie verloren.

Alla Shenderova

Warum glaubst Du, dass Deine Unfreiheit jetzt geringer ist?

Vsevolod Lissovsky

Ich bin in einer idealen Situation: Ich muss nirgends mehr hineinpassen. Ich gehe von der Idee aus, dass man, wenn man weggeht, ehrlich zu dem Ort sein muss, an den man geht. Man erwartet nicht, dass man sich zurücklehnt, sondern dass man dorthin geht, um zu leben. Aber man muss sich an dem neuen Ort einfügen. Dementsprechend muss man einige Regeln befolgen. Hier ist es für mich einfach - ich muss keine Regeln befolgen. Ich muss überhaupt nicht beweisen, was für ein Russe ich bin: gut oder schlecht. Ob meine Meinung von der offiziellen abweicht. Keinen interessiert das. Wenn ich weggehe, dann müsste ich wohl "gut" werden. Außerdem, was macht es für einen Unterschied, ob ich hier oder in Europa ausgegrenzt werde? Weggehen, ein neues Leben beginnen - ich bin 55. Lieber möchte ich hier leben, irgendwie. Aber meine Stimmung schwankt oft. Ich spreche für den Moment. Den Rest werden wir sehen.

 

Anton Khitrov (Kasan - Almaty -Tiflis): "Die Apokalypse hat uns unser Hirn zurückgegeben".

Anton ist ein 29-jähriger Moskauer Theater- und Kunstkritiker. Er ist Autor für das Portal Meduza.io und zog vor einigen Jahren nach Kasan. Dort betreute er das Theaterprogramm von Tatarstans bester freier Spielstätte. Nach der für Ende September 2022 angekündigten Mobilisierung ging er nach Kasachstan. Im Dezember 2022 zog er nach Tiflis um.

Alla Shenderova

Wie war das Leben in Almaty?

Anton Khitrov

Das Theater ist mein Schwerpunkt geblieben, obwohl ich in den letzten Jahren auch im Bereich der zeitgenössischen Kunst arbeite. Um über Theater und Ausstellungen zu schreiben, muss man sich im selben Raum aufhalten, in dem sie stattfinden. Als ich in Almaty ankam, hatte ich keine Ahnung, was ich als nächstes tun sollte. An diesem Punkt beendete der TV-Kritiker seine Zusammenarbeit mit Meduza. Ich kannte ihn nicht, aber er hat mein Leben verändert. Plötzlich war ich dabei, mich schnell als Kritiker für Serien zu positionieren.

Alla Shenderova

Wie haben die Menschen in Kasachstan auf die große Zahl von Menschen aus Russland reagiert?

Anton Khitrov

Kasach:innen, Russ:innen, Tatar:innen und viele andere Menschen, die dort leben, sind wunderbare, einfühlsame Menschen. Sie sind gierig nach jeder neuen Information. Wenn du ankommst, sehen sie dich nicht nur als eine Person in Schwierigkeiten, sondern als jemanden, der ihnen nützlich sein kann. Die Russ:innen, die im Frühjahr nach Almaty kamen, haben viel für die Neuankömmlinge getan. Vor allem Juraj Schchwatow [russischer Regisseur und einer der Organisatoren des Lubimowka-Festivals, der jetzt in Deutschland ist. -A.Sh.] hat bei der Schaffung einer Theatergemeinschaft erstaunliches geleistet. Mit seiner Hilfe organisierte das ARTiShock-Theater ein Treffen für russische Theatermacher:innen, wo sie über den Aufbau und Möglichkeiten der kasachischen Theaterindustrie informierten. Es kamen etwa zweihundert Leute. Ich habe den Eindruck, dass man sich in Kasachstan darüber im Klaren ist, dass Russland, wenn es den Krieg verliert, bald seine imperiale Stellung in der Region einbüßen wird. Dann haben Astana und Almaty eine echte Chance, zu attraktiven neuen Standorten für Kultur und Wirtschaft zu werden. Ich habe dort einen kostenlosen Kurs für Kritiker:innen und Blogger:innen gegeben: zwei Russ:innen waren dabei, der Rest war aus Kasachstan. Ich habe nie wieder mit ARTiShock zu tun gehabt. Aber wenn ich es gebraucht hätte, hätten sie eine Verwendung für mich gefunden. Sie sind sehr an einer für beide Seiten vorteilhaften Koexistenz mit russischen Auswander:innen interessiert. In Russland liegt jetzt alles hinter uns. Ein neues Leben wird nicht so bald beginnen. Aber Kasachstan hat alles vor sich.

Alla Shenderova

Spürst Du rückblickend Wehmut?

Anton Khitrov

Ich denke, wir vermissen die alte Lebensweise, nicht die Orte. Ich vermisse meine Lieblingsplätze in Kasan sehr. Diesen Sommer habe ich einen Text geschrieben, einen Nachruf auf das Serebrennikov-Gogol-Zentrum. Mein Punkt war: Das alte Leben beruhte auf einem großen Irrtum. Es bestand in der Vorstellung, dass wir ein paralleles Leben innerhalb des Staates führen, unseren eigenen Raum verteidigen könnten.

Das alte Leben beruhte auf einem großen Irrtum. Es bestand in der Vorstellung, dass wir ein paralleles Leben innerhalb des Staates führen, unseren eigenen Raum verteidigen könnten.

Alla Shenderova

Das haben uns unsere Eltern beigebracht. Das war eine alte sowjetische Gewohnheit.

Anton Khitrov

Das Ende der Welt hat immer mit Erneuerung und Wiedergeburt zu tun. Ich wäre froh, wenn der Krieg nicht begonnen hätte. Gleichzeitig ist mir klar, dass ich untergegangen wäre, wenn die Situation von Anfang 2022 weiter bestanden hätte. Ich hätte mir mehr und mehr Kompromisse erlaubt. Die Apokalypse, die stattgefunden hat, hat unsere Gehirne wieder in Position gebracht. Ich möchte nicht in mein altes Leben zurückkehren, denn ich habe mich von den Illusionen verabschiedet, die dieses alte Leben begleitet haben. Ich entscheide mich für die düstere Realität, in der ich mich befinde. Wenigstens belüge ich mich jetzt nicht mehr selbst.

Alla Shenderova

Ich will nicht in dieses Leben zurück. Aber ich möchte in meine Heimat und in meine Sprache zurückkehren. 

Anton Khitrov

Ja, das verstehe ich. Ich hoffe wirklich, dass ich weiterhin mit russischsprachigen Publikationen zusammenarbeiten kann, um mit meinen Leser:innen in Kontakt zu bleiben. Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an meinen Namen, aber jemand liest meine Texte.

 

Elena Smorodinova (Moskau): "Fragen Sie nicht, was ich als Nächstes tun werde."  

Elena ist Journalistin und Theaterregisseurin und lebt in Moskau. Sie hat eine Reihe erfolgreicher Dokumentartheaterprojekte produziert.

Elena Smorodinova

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen würden: "Wir müssen bleiben" [d. h. in Russland bleiben]. Im Sommer 2022 hatte ich einen Plan: Ich würde Europa besuchen und zurückkommen, um ein paar Projekte zu beenden und das Honorar zu bekommen. Dann plante ich, nach Riga zu ziehen. Aber nach Lettland zu gehen, war ab August 2022 nicht mehr möglich [Lettland schloss alle Grenzen für russische Bürger:innen, auch wenn sie ein Schengen-Touristenvisum hatten - A.Sh.]. Am 21. September erfolgte dann die Mobilisierung. Infolgedessen wurden einige meiner Projekte gestrichen. Das war ein schwerer finanzieller Schlag. Statt zu gehen, muss ich jetzt einfach überleben.

ALLA SHENDEROVA

Hast Du im Moment Aufträge?

Elena Smorodinova

Fast keine. Ich produziere ein Hörspiel über die Geschichte der Tretjakow-Galerie. Dann gibt es noch einige kleine Projekte, aber nicht mehr. Viele Projekte wurden abgesagt, nicht, weil sie verboten sind, sondern weil es niemanden gibt, der sie aufführen will - das potenzielle Publikum ist weg. Frag mich nicht, was ich als nächstes tun werde, ich habe keine Antwort. Als Journalistin kann ich immer noch über Theater schreiben. Aber ich weiß nicht, wie lange die Publikationen, mit denen ich zusammenarbeite, noch existieren werden.

 

Polina Borodina (Istanbul - Berlin) "Sagen 'Ich bin Russin' und dann die Klappe halten."

Sie ist eine der populärsten russischsprachigen Dramatikerinnen der neuen Generation. Ihre Stücke werden in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken aufgeführt. Nach dem 24. Februar ermutigte sie die Menschen, sich gegen den Krieg auszusprechen - nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf den Straßen von Moskau. Bald darauf musste sie das Land verlassen, um der Verfolgung zu entgehen. Polinas berühmtestes Stück heißt „Exodus“.

ALLA SHENDEROVA

Wie würdest Du Deinen Umzug beschreiben?

Polina Borodina

"Flucht" ist das richtige Wort dafür. Ich habe in meinem Leben schon eine Emigration erlebt, ich kann das also vergleichen. Ich weiß, wie es ist, routinemäßig in ein anderes Land zu ziehen. Mein Ex-Freund ist ein Israeli. Dort habe ich drei Jahre gelebt, lernte Hebräisch und fand eine Art soziale Gruppe. Ich habe als Teppichverkäuferin gearbeitet. Ich weiß, was eine Auswanderungskrise ist und wie schwierig sie sein kann. Aber nichts davon ist vergleichbar mit der jetzigen Situation. Natürlich gibt es gemeinsame Punkte. Aber der Kontext, der Schmerz der Identität, die Unmöglichkeit zu sagen "Ich bin Russe" und nichts weiter zu erklären, das ist alles neu. Und dann... Wenn Menschen umziehen, nehmen sie sich normalerweise viel Zeit zum Packen. Jetzt sind die Leute buchstäblich mit dem Roller nach Ober-Lars gefahren [Ein Kontrollpunkt an der russisch-georgischen Grenze. Im September 2022, nachdem die Mobilisierung angekündigt worden war, versuchten Tausende von Menschen, Russland über den Ober-Lars zu verlassen. Für den Grenzübertritt war ein Transportmittel erforderlich, das oft ein einfacher Kinderroller war - A.Sh.]. Es war also eine echte Flucht. Um Generalisierungen zu vermeiden, möchte ich hinzufügen, dass es einige Menschen gab, die nach Europa gingen, um dort zu arbeiten. Davon gab es in meinem Umfeld aber nicht viele.

ALLA SHENDEROVA

Ich stimme zu, dass es heute schwer ist, zu sagen "Ich bin Russe" und zu schweigen.

Polina Borodina

Theoretisch ist es richtig, "Ich bin Russe" zu sagen und zu schweigen. Es ist der perfekte Moment, in dem man herausfinden kann, ob die andere Person ein Chauvinist ist. Und ob er weiß, wie man einen Menschen als Summe seiner Handlungen und Taten beurteilen kann. Denn wenn sie Zweifel haben und wissen wollen, wie Sie zum Krieg stehen, können sie das leicht herausfinden.

ALLA SHENDEROVA

Welche Schwierigkeiten gab es seit der Ausreise?

Polina Borodina

Die erste Schwierigkeit tritt bei jeder Emigration auf: Niemand hat deine Texte gelesen oder deine Projekte gesehen. Man muss sich also wieder neu verkaufen. Die zweite Schwierigkeit ist, dass alle Künstler:innen mit Kontexten arbeiten. Diejenigen, die mit Sprache arbeiten, arbeiten doppelt so viel mit Kontexten. Also 1) um etwas Sinnvolles zu tun, muss man den Kontext verstehen und fühlen; 2) worüber darf ich schreiben? Ich glaube nicht, dass es ethisch vertretbar ist, über den Krieg aus einer ukrainischen Perspektive zu sprechen - über den Krieg von innen heraus zu sprechen. Obwohl es sehr bequem wäre: Ich würde wahrscheinlich Geld und eine Plattform dafür bekommen. Aber bin ich die richtige Person, um die Geschichten eines fremden Landes und eines fremden Schmerzes darzustellen? Ich habe mir noch nie so viele Fragen gestellt, wie ich es jetzt tue. Außerdem verstehe ich nicht immer, ob das, was ich tue, aufgrund meiner Herkunft oder der inhaltlichen Bedeutung berücksichtigt wird.

ALLA SHENDEROVA

Unter welchen Bedingungen würdest Du zurückkehren?

Polina Borodina

Wenn ich das Gefühl hätte, dass ich meine Weltanschauung und meine Geschichte teilen kann - und danach nicht ins Gefängnis muss. Gern würde ich sagen: Ich kehre zurück, wenn die Regierung wechselt. Aber dann bekommt man das Gefühl, dass jemand anderes das für mich ändern muss. Aber es gibt keinen solchen "anderen". Ich respektiere die Entscheidungen derjenigen, die bewusst ins Gefängnis gegangen sind. Ich schreibe ihnen immer wieder Briefe. Aber wer würde sich besser fühlen, wenn ich bei ihnen wäre?

Ich respektiere die Entscheidungen derjenigen, die bewusst ins Gefängnis gegangen sind. Ich schreibe ihnen immer wieder Briefe. Aber wer würde sich besser fühlen, wenn ich bei ihnen wäre?

 

Alexander Molochnikov (New York) "In zehn Jahren werde ich vierzig sein. Und ich werde zurückkommen."

Er ist ein sehr bekannter Moskauer Theater- und Filmschauspieler und Regisseur. Seine Inszenierungen werden am Moskauer Kunsttheater und am Bolschoi-Theater aufgeführt. Im Jahr 2014 war er in Kiew auf dem Maidan und schrieb eine Reportage darüber. In den letzten Jahren hat er eine starke zivilgesellschaftliche Position eingenommen. Er hat an Kundgebungen teilgenommen und sich aktiv gegen den Krieg geäußert. Jetzt gehört er zu den Regisseuren, deren Produktionen entweder verboten sind oder ohne seinen Namen aufgeführt werden.

ALLA SHENDEROVA

Wie hat sich Dein Leben seit Beginn des Krieges verändert?

Alexander Molochnikov

Auf der einen Seite hat sich alles verändert. Wenn man sich mit aber mit Künstler:innen zusammensetzt, stellt man jedoch fest, dass sich im Grunde nichts geändert hat. Sicher, alle sprechen jetzt Englisch, aber wir teilen dieselbe globale Sprache. Das versetzte mich in einen Rausch von Energie und Aufregung. Ich fühlte mich plötzlich, als ob ich nach vier Monaten Schlaf aufgewacht wäre.

ALLA SHENDEROVA

Hast Du nicht gesagt, dass es wie in der Möwe von Tschechow sein wird?

Alexander Molochnikov

Ja, irgendwie basiert es darauf. Wir haben kürzlich unseren Sketch gespielt. Aber es ist nicht klar, wie es damit weitergehen wird. Was Bedingungen, Sicherheiten und Perspektiven angeht - all die Dinge, an die ich in Moskau gewöhnt bin - gibt es einen kompletten Rückschritt. Aber bezüglich der kreativen Freiheit, ist es ein Fortschritt. Es ist interessant zu verstehen, wie das Publikum in New York ist. Es ist eine Stadt mit einem ganz anderen Publikum und nicht so theatralisch wie Berlin oder Warschau. Mein Sketch heißt Tschechow im Chelsea, weil Chelsea das Zentrum der New Yorker Kultur ist. Und Die Möwe ist ein Gespräch über Kunst.

ALLA SHENDEROVA

Chelsea ist das berühmte Bohème-Viertel von New York.

Alexander Molochnikov

Ja, das Chelsea, das Leonard Cohen in seinem Lied "Chelsea Hotel" besingt. Es ist das Hotel, in dem Miloš Forman mehrere Drehbücher geschrieben hat. Der Ort, an dem Andy Warhol, William Burroughs, Sid Vicious und andere lange Zeit lebten. Wie auch immer, ich versuche, durch Tschechow etwas über die New Yorker Kultur zu verstehen. Und da ich in Amerika bin, möchte ich auch etwas über Amerika machen. Ich will nicht über Russland oder die Emigration schwafeln. Tschechow bleibt in dem Stück also nur als Kenner menschlicher Beziehungen, die in Chelsea sehr Tschechow-lastig waren. Aber der Schauplatz selbst und die Figuren sind amerikanisch. Obwohl, es ist schon etwas seltsam, wenn ich jetzt daran denke, dass ich im Juli noch ein Casting auf der historischen Bühne des Bolschoi-Theaters gemacht habe. (Lacht)

ALLA SHENDEROVA

Wann bist Du nach Amerika gegangen?

Alexander Molochnikov

Ende August. Davor habe ich noch eine Fernsehserie gedreht.

ALLA SHENDEROVA

Hast Du dich vor dem Krieg an der Columbia University beworben?

Alexander Molochnikov

Ja, ich habe mich im Oktober 2021 für den Fachbereich Filmregie beworben. Anfang März hatte ich ein Zoom mit dem Zulassungsausschuss. Ein paar Wochen später schickten sie mir eine Bestätigung.

ALLA SHENDEROVA

Als Du im Juli 2022 für das Bolschoi-Theater vorgesprochen hast, hast Du gedacht, dass die Produktion noch möglich ist?

Alexander Molochnikov

Ja. Wir hatten die Oper Francesca da Rimini für das Bolschoi-Theater geplant. Der Bühnenbildner Alexander Shishkin-Khokusai und ich haben ein Modell des Bühnenbilds angefertigt. Wir haben nicht wirklich daran geglaubt, dass die Oper zustande kommen würde, aber wir dachten, dass das Bolschoi-Theater auch nach Putin noch bestehen würde. Ich verurteile trotzdem nicht diejenigen, die jetzt noch in Russland arbeiten. Es kommt darauf an, was man tut. Im neunen Projekt wollten wir bestimmte Bedeutungen setzen: Wir dachten, dass die ersten 20 Minuten der Oper von der Hölle handeln. Diese Hölle war das wohlhabende Moskau, dem es gelingt, Krieg und das gesellschaftliche Leben in den Restaurants zu verbinden. In unserem Plan aßen sie in den Restaurants Menschen, die in der Küche gekocht worden waren.

Im August 2022 gab das Theater seine Pläne bekannt, und sofort brach ein Skandal aus: Ich wurde verbannt. Zuerst verschwand Francesco da Rimini aus dem Spielplan, dann wurden meine früheren Produktionen - das Ballett und die Oper - aus dem Repertoire des Bolschoi gestrichen. Jetzt ist das Ballett wieder da, aber ohne meinen Nachnamen. Meine Produktion „1914“ wird am Moskauer Kunsttheater auf die gleiche Weise inszeniert. Im Programmheft heißt es: "Regie: DIRECTOR". 

ALLA SHENDEROVA

Unter welchen Bedingungen würdest Du zurückkehren?

Alexander Molochnikov

Wie Leonid Parfyonov [Journalist und Persönlichkeit des öffentlichen Lebens - A.Sh.] sagte: "Nach dem Ende des Putinismus." Aber wir wissen nicht, wie sich das Leben entwickeln wird. Ich schätze, Marina Zwetajewa hat auch nicht gedacht, dass sie zurückkommen würde. Aber sie ist gekommen. Ich hoffe nur, dass ich genug Kraft, Fähigkeiten und Talent habe, um nicht vor dem Ende dieser Zeit zurückzukehren. Ich denke, das war's für zehn Jahre. Es tröstet mich, dass ich in zehn Jahren vierzig sein werde. In dieser Zeit habe ich noch etwas Zeit, um als Regisseur zu wachsen.