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16 Min

22.06.2022

Gespräch

Kyoko Iwaki & Chiaki Soma

Illustration

Irem Kurt

Outlook Theater der Welt 2023

Chiaki Soma, Programmdirektorin, und Kyoko Iwaki, Mitarbeit Programm, Theater der Welt 2023 im Gespräch mit Jan Linders. Das Gespräch fand während des Kick-Off-Wochenendes der ITI Academy am 4. Dezember 2021 virtuell statt und wird hier in Auszügen wiedergegeben. Die Aufzeichnung finden Sie hier.

Jan Linders

Ich begrüße Chiaki Soma, die aus Nagoya zugeschaltet ist, und Kyoko Iwaki, aktuell in Brüssel. Die beiden Kuratorinnen des Theater der Welt 2023 Festivals stellen sich zunächst kurz vor und erläutern dann einige Details zum Festival selbst und dem ihm zugrundeliegenden dramaturgischen Konzept.

Chiaki Soma

Ich bin Kuratorin und Produzentin mit Sitz in Tokio und spezialisiert auf transdisziplinäre zeitgenössische Kunst, die Theater, Kunst, sozial engagierte Kunst und Medienkunst mit AR- und VR-Technologien umfasst. Im Laufe der letzten 20 Jahre habe ich als Kuratorin und Festivalleiterin viel für Festivals gearbeitet, zum Beispiel für das Festival/Tokyo, einem der größten Festivals für darstellende Kunst in Japan, sowie für die Aichi Triennale, die ebenfalls zu den großen transdisziplinären Kunstfestivals zählt. Außerdem bin ich Gründerin, Präsidentin und künstlerische Leiterin des Theater Commons Tokyo, einem unabhängigen Festival mit Schwerpunkt auf transdisziplinäre Künste. Dieses Festival gehört zu den kleineren, die ich kuratiert habe, ist aber völlig unabhängig. Es ist zweifellos auch das experimentellste Festival in Bezug auf die kuratorische Praxis.

Theater Commons wurde 2017 gegründet und es gab bisher bereits fünf Ausgaben. Das Thema der letzten Ausgabe, die im Februar und März 2021 stattfand, war Körper in der Inkubation. Ich spreche das deshalb an, weil es mit dem, was wir für das Theater der Welt Festival vorschlagen, sehr eng in Verbindung steht. Körper in der Inkubation hat eine zweifache Bedeutung. Einerseits erinnert es an ein Ei, das darauf wartet, ausgebrütet zu werden, andererseits bezeichnet der Begriff Inkubation aber auch einen anderen Zustand, zum Beispiel wenn ein Virus in den Körper eingedrungen ist, die Symptome aber noch nicht spürbar sind. Er ist also sehr doppeldeutig. Diese Doppeldeutigkeit beschreibt unsere Gefühle und die Situation während der COVID-Pandemie. Und dann sind wir in Quarantäne, isoliert in einem Haus oder in einem Zimmer. Und wir sind in dem Ei eingeschlossen, aber gleichzeitig wissen wir nicht, ob unser Körper krank ist oder nicht. Dieses Gefühl hat mich irgendwie wirklich inspiriert, und das war natürlich zu Beginn der Pandemie. Aber dieser Zustand hält vielleicht noch lange an. Deshalb haben wir versucht, das Konzept positiv zu gestalten und diese Realität zu formen.

Für das Theatre Commons Festival habe ich beschlossen, mich auf die VR- oder AR-Performance zu konzentrieren. Da wir uns nicht persönlich treffen konnten, haben wir unter den begrenzten Umständen, die uns diese Realität aufzwang, etwas Neues geschaffen.

Es gab eine Art Therapie-Performance mit Akupunktur ohne VR, aber eine Performance dieser Art hat einen sehr starken Einfluss auf das Gehirn, und das ist auch ein Erlebnis für sich. Diese künstlerische Darstellung ist sehr eng mit dem verwandt, was wir im Konzept für Theater der Welt vorschlagen. Viele von Ihnen wissen wahrscheinlich schon, dass das Festival 1981 als Initiative des ITI Deutschland gegründet wurde. Es findet in der Regel alle drei Jahre in einer deutschen Stadt statt, das nächste Mal zwischen Ende Juni und der ersten Julihälfte 2023 in Frankfurt und Offenbach – zwei Städte, mit völlig gegensätzlichen Charakteren. Das Festival wird von drei Institutionen organisiert: Mousonturm, Museum Angewandte Kunst und Schauspielhaus Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Amt für Kulturmanagement der Stadt Offenbach.

Wir wurden aus rund 75 Bewerber:innen als erste außereuropäische Direktor:innen und erste weibliche Kodirektorinnen des Festivals ausgewählt (Anm. d. Red.: Stand Dez. 2021). Die Veranstalter von Theater der Welt wollen hinterfragen und neu definieren, was Theater der Welt ist oder was ein Festival in unserer Zeit ausmacht. Ich denke, dass wir unter anderem ausgewählt wurden, weil wir als Nicht-Europäer:innen vielleicht eine andere Perspektive einbringen können, zum Beispiel als Japaner:innen, Asiat:innen oder als Frauen.

Kyoko Iwaki

Ich arbeite seit 10 Jahren mit Chiaki zusammen und unterstütze sie derzeit als Chefdramaturgin für das Festival Theater der Welt 2023.

Der Grund, warum Chiaki den Inhalt des Theatre Commons Tokyo Festivals beschrieben hat, ist, dass es zu dem überleitet, was wir für Theater der Welt leisten möchten. Wir haben das Konzept der Inkubation zu etwas Neuem entwickelt und den Begriff „incubationism“ („Inkubationismus“) geprägt, um diesen Ansatz zu beschreiben. Dieser Begriff soll nicht einfach auf einen passiven Zustand des Wartens hindeuten, sondern beinhaltet vielmehr eine neuartige Handlungsweise. Es ist ein -ismus. Wenn man zum Beispiel darüber nachdenkt, möglicherweise krank zu sein, oder wenn man sich während der COVID-Pandemie im Lockdown befinden, ist es, als wäre man in Stasis. Es ist ein weltweiter Schwebezustand, in dem wir gerade leben, und wir neigen dazu, dies sofort als einen negativen Zustand zu interpretieren. Wir sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass dieser globale Stillstand stattdessen als Ausgangspunkt für positive Entwicklungen dienen kann. Der Begriff „Inkubationismus“ suggeriert in erster Linie ein Vorgehen gegen progressive oder fortschrittsorientierte Bewegungen. Es geht eher darum, in der gegenwärtigen schmerzhaften, nachteiligen oder beschwerlichen Situation zu verharren. Als lebendiges Menschenwesen befindet man sich gleichzeitig in einem Zustand des Lebens und Sterbens, ohne es wirklich zu bemerken; man stirbt unbestreitbar Tag für Tag. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Leben und Tod niemals binär, sondern vielmehr synchron. Wenn man gesund ist oder einfach so vor sich hinlebt, nimmt man diese Tatsache nicht wirklich wahr; vielmehr verdrängt man vorsätzlich alles aus seinem Leben, was mit dem Tod zu tun hat. Aber wenn das Leben aus den Fugen gerät, wie es bei COVID der Fall ist, nimmt jede winzige Alltagsentscheidung, die man trifft, eine Ebene der Performativität an. Wenn man beispielsweise mit eine:r Freund:in spazieren geht, kann das zu einer fürsorglichen Handlung werden; oder wenn man irgendwohin fliegt, wird das in der aktuellen ökologischen Krise zu einem sehr bewussten Akt des CO2-Ausstoßes. And da alles abnormal ist, zögert man, denkt nach und pausiert den automatisierten Lebensablauf.

In diesem Sinne ist Inkubationismus eine Handlung, die dazu auffordert, die Fassade der alltäglichen Bequemlichkeit zu überwinden, indem man sich absichtlich nicht bewegt.

Das Wort kuratieren kommt vom lateinischen Wort curare, was so viel wie „sich kümmern“ bedeutet. Seit moderne Einrichtungen wie Krankenhäuser und Zoos zu behaupten begannen, sie „kümmerten“ sich um andere, fingen sie ebenfalls an, die „Objekte“ unterzubringen, um die sie sich „kümmerten“. Die Fürsorge richtete sich eher auf das Sammeln, Beobachten und Unterhalten als auf eine Reihe von kontinuierlichen improvisatorischen Handlungen. Bei der Übertragung dieses Konzepts auf den Bereich des Theaters müssen wir uns daran erinnern, dass wir das „Andere“ im Theater weder sammeln noch beobachten können und sollten.

Ein Großteil des dokumentarischen Theaters der letzten zwei Jahrzehnte hat sich stark auf diese Objektivierung des Anderen gestützt, aber wir müssen uns um die Anderen aus einer Perspektive „kümmern“, die nicht nur die asymmetrischen Machtverhältnisse verstärkt.

Das ist für uns so offensichtlich, weil es in uns mehrere Sichtweisen gibt, die verschiedene binäre Beziehungen queeren: Unterdrückte:r/Unterdrücker:in, Benachteiligte:r/Privilegierte:r, Minderheit/Autorität, Zerstörer:in/Schöpfer:in, Betreuer:in/Betreute:r und so weiter und so fort. Auch diese Binaritäten werden hinfällig, wenn man die Perspektive wechselt und diese auch auf die Welt jenseits der Menschen richtet. Von einem männlich geprägten Standpunkt der Renaissance aus betrachtet, sind wir japanische Frauen keine Menschen, zählen aber dennoch definitiv zu den menschlichen Unterdrückern, wenn wir die Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur untersuchen. Für uns bedeutet Fürsorge also nicht nur, dass wir uns um „objektivierte“ Andere kümmern. Vielmehr sind wir auch schutzbedürftige Personen, die ebenso der Fürsorge bedürfen wie diejenigen, die sich an der Fürsorge beteiligen müssen. In dieser von COVID geprägten Welt ist niemand völlig sicher. Vielleicht brauchen Sie morgen genauso viel Hilfe, wie Sie heute anderen helfen müssen.

Jede:r sollte Fürsorge erfahren und gleichzeitig fürsorglich sein, indem er:sie die bisherigen hegemonialen Binaritäten queert.

Um diese Konzepte in die konkrete Praxis umzusetzen, haben wir im Rahmen des Festivals fünf Strategien eingeführt. Eine davon ist die Erforschung neuer Performances oder Performance-Kunst, die die Welt aus der Perspektive der Krankheit erfasst. Auch hier geht es nicht um die Krankheit, die am entgegengesetzten Ende des Spektrums zur Gesundheit angesiedelt ist, sondern um die Krankheit, die fast immer in uns ist und sich in einem Zustand der ständigen Inkubation befindet. 

Zweitens wollen wir den taktilen Sinn in Performances beleuchten und erforschen, indem wir uns gegen die okulare Darstellung wenden. Dies entspringt wiederum dem Wunsch, die Binarität zwischen Subjekten (Zuschauer:innen) und Objekten (Darsteller:innen) im Theater in Frage zu stellen, da in den letzten Jahrzehnten, insbesondere im deutschsprachigen Raum, das sogenannte postdramatische Theater viel zu viele Narrative ausgeschlachtet hat, die die Untergebenen recht gewaltsam dazu zwangen, auf der Bühne über ihrer Opferrolle zu sprechen. Der politische Mechanismus des Bestaunens verstärkt sich in diesen okularzentrierten Theatern nur, und deshalb wollen wir den Rahmen des Visuellen sprengen, indem wir das Taktile betonen, was bereits über das Binäre hinausgeht. Wenn man jemanden berührt, wird man selbst auch berührt.

Drittens werden wir viele Arbeiten mit VR-Headsets vorstellen, die nicht nur virtuelle Realität, sondern auch verletzliche, veränderbare und flüchtige Realitäten schaffen. Wie ich bereits in Bezug auf die zweite Strategie erwähnt habe, verwenden wird die VR-Geräte nicht, um die Kraft des Visuellen zu stärken. Vielmehr setzen wir die VR-Technologie gerade deshalb ein, weil wir das Versagen des Körpers darstellen wollen. Ganz gleich, wie vollständig das Gehirn in der akribisch geschaffenen Matrix der virtuellen Realität aufgeht, der Körper bleibt zurück und schleppt alle Probleme der eintönigen Realität des Lebens mit sich. Wir wollen also wiederum die Binarität queeren – dieses Mal die Dichotomie von Körper und Geist – um zu verstehen, was es bedeutet, das Versagen, die Ohnmacht und die Unfähigkeit unserer menschlichen Körper zu würdigen. Unser vierter Punkt fasst gewissermaßen zusammen, was ich bereits gesagt habe, aber es geht auch darum, das Festival zu queeren, indem wir das praktizieren, was wir „eco/echo curation“ (Öko/Echo-Kuration) nennen. Wir leben offensichtlich in einer Welt, in der wir die Umweltprobleme, mit denen wir konfrontiert sind, nicht leugnen oder widerlegen können. Seit einigen Jahren ist das Thema Ökokritik auch in der Kunstwelt allgegenwärtig. Aber wenn wir von „eco curation“ (Ökokuration) sprechen, meinen wir nicht, dass wir zu Quasi-Aktivist:innen werden, indem wir weniger fliegen, unseren Plastikkonsum reduzieren oder uns vegan ernähren. Anstatt uns wie diese veganen Aktivisten zu verhalten, wollen wir umweltkritisch werden in dem Sinne, dass wir auf den kapitalistischen Ansatz der Build-and-Scrap-Kuration verzichten, bei dem ständig neue Werke verlangt werden – vor allem, um die Gier der Kurator:innen zu befriedigen, die auf ihren Festivals Weltpremieren präsentieren wollen, um so das Machtspiel zu gewinnen.

Im Gegensatz dazu wollen wir ganz bewusst und bestimmt viele frühere Werke der Künstler:innen in unsere Programmgestaltung einfließen lassen, um sie in einem anderen Kontext wieder aufleben zu lassen.

Verschiedene Programmdirektor:innen haben dies in der Vergangenheit bereits in gewissem Umfang getan, aber wir wollen uns noch stärker darauf konzentrieren. In der bildenden Kunst, in den Museen, war die Pflege vergangener Werke schon immer die Hauptaufgabe eine:r Kurator:in – warum können wir das also nicht auch in der Welt des Theaters umsetzen? Das ist also unser vierter Punkt.

Der fünfte Punkt ergibt sich ganz organisch aus dem vorherigen Punkt, denn es geht um die räumlich-zeitliche Dekonstruktion von Institutionen wie Museen: Diesmal konzentrieren wir uns speziell auf das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt. Als wir anfingen, über die Nutzung dieses Museums nachzudenken, kam uns sofort die andersartige Temporalität von Museen verglichen mit Theatern in den Sinn. In Theatern ist die Zeit begrenzt und dem Publikum vorbehalten. Man geht um 20:00 Uhr ins Theater, bleibt bis 22:00 Uhr und geht dann wieder. In Museen hingegen ist die Zeit dehnbarer und freier: Der:die Besucher:in kann entscheiden, wann er:sie eine Ausstellung besuchen möchte. Diesen musealen Aspekt der Temporalität wollen wir erweitern und den Zeitraum auf 24 Stunden ausdehnen. Wir erwägen, das Museum Angewandte Kunst an manchen Wochenenden für 24 Stunden zu öffnen – wie die Mini-Märkte in Tokio, oder besser gesagt, wie Unfallkliniken oder Pflegeeinrichtungen rund um den Globus – damit die Besucher:innen kommen und gehen können, wie es ihnen passt. Wir werden unzählige Krankenhausbetten im Museum aufstellen, auf denen sich die Besucher:innen ausruhen, meditieren oder sogar ein Nickerchen machen können. Wie Apichatpong Weerasethakul einmal sagte, als ich sein retrospektives Filmfestival in der Tate Modern besuchte, ist „Schlafen ... ein politischer Akt gegen den Kapitalismus“.

Schlafen ist politisch in dem Sinne, dass diese Handlung über den Bereich der Produktivität hinausgeht. Die Frage ist also folgende: Wenn das Publikum kollektiv 12 Stunden im Museum schläft, werden sie dann zu Meditierenden, Schlafenden, Pflegenden oder Aktivist:innen?

Auf jeden Fall denke ich, dass die Körper des Publikums performativ werden. Wohlgemerkt befinden wir uns momentan noch in einem Anfangsstadium, in dem wir über all diese Dinge nachdenken; daher kann es in Zukunft noch zu Änderungen kommen.

Es fühlt sich irgendwie arrogant an zu sagen, dass ich das Theater der Welt leite. Deshalb schlagen wir vor, den Namen des Festivals in den Plural zu setzen, zumindest für diese Ausgabe: Theater der Welten. Dies zu tun wäre unserer Meinung nach ein wenig besser, als zu sagen, dass es das Theater der Welt in Deutschland ist; es wird also zu den pluralistischen Welten, in denen wir ohnehin gerade leben. Wir wollen die Welt so weit wie möglich queeren. Ich sage nicht, dass ich nur aus Japan komme. Ich habe als Kind in verschiedenen Ländern gelebt, genau wie viele andere Menschen, die heute ein nomadisches Leben führen.

Es ist nicht als ob man vom Westen in den Osten und vom Osten in den Westen wechselt. So ist es nicht. Es ist keine binäre Angelegenheit. Wir queeren diese Richtungen, Fäden und intertheatralischen Beziehungen nur, damit sie in beide Richtungen laufen, oder versuchen, Herkunft und Narrative zu queeren. Das Ziel ist, zu einer Quelle mannigfaltiger Narrative zu werden.

Das ist eine andere Form der „eco/echoing curation“ (Öko-/Echo-Kuration), die die Verflechtung vieler Narrative unterschiedlichster Herkunft beinhaltet. Und um das zu erreichen, können wir nicht die einzigen Akteur:innen sein. Um diese kleinen Satellitenfestivals zeitgleich mit dem Festival in Frankfurt und Offenbach zu veranstalten, versuchen wir, unsere bewährten Partner:innen und Kurator:innen auf der ganzen Welt zu erreichen, damit diese ihre eigenen Veranstaltungen organisieren können. Im Moment ist es nur ein winziger Funke einer Idee, die wir versuchen im Laufe der Zeit weiterzuentwickeln.

Chiaki Soma

Wir entwickeln derzeit ein Konzept, aber wir müssen es auch in der Praxis der beiden Städte zum Ausdruck bringen und umsetzen, und das ist sehr schwierig. Wir würden gerne rund um den Zoo forschen. Schließlich wurden nicht nur Menschen kolonisiert, sondern auch Tiere. Wir versuchen, den Zoo als Forschungsrahmen zu nutzen und beginnen mit dieser Forschung in Zusammenarbeit mit einer Reihe asiatischer Künstler:innen. Und warum auch nicht? Wir können eine Theater der Welt-Satellitenversammlung irgendwo im Zoo oder an einem symbolischen Ort organisieren.

Kyoko Iwaki

Was ist das Festival im 21. Jahrhundert? Diese Frage lässt sich nicht endgültig beantworten, weil es ein so umfassendes Thema ist, aber wir wollten wenigstens anfangen, darüber nachzudenken. Die Sichtweise eine*r einzelnen Kurator*in zu dezentralisieren und zu queeren, ist eine Sache. Natürlich ist das westliche Modell der Theaterfestivals weitgehend nach dem Krieg entstanden. In der Absicht, nach dem Krieg die wiedererlangte nationale Macht zu demonstrieren, luden viele europäische Festivals Künstler*innen aus nicht-westlichen Welten ein. Diese Festivals wurden von oft charismatischen Kurator*innen geleitet, die in andere Städte flogen und das, was sie dort entdeckten, wie unbekannte Schätze sammelten. Für mich spiegelt diese Art des Kuratierens eine koloniale Denkweise wider: ein*e einzelne weiße Kurator*in fliegt in Länder der Dritten Welt und sammelt sie in einer europäischen Stadt.

Anstatt dieser kolonialen kuratorischen Praxis zu folgen, die für asiatische Frauen, gelinde gesagt, sonderbar wirkt, denken wir daran, die kuratorische Sichtweise zu dezentralisieren, queeren und kollektivieren.

In diesem Sinne werden wir auch intensiv mit Expert:innen vor Ort zusammenarbeiten, um deren spezifisches Wissen zu erschließen, es aber nicht zu einem singulären universellen Wissenspool zusammenzuführen. In einer Zeit, in der Facebook ein Metaversum schafft, in dem jeder jede Art von Identität für sich beanspruchen kann, halte ich es für besonders wichtig, dass wir als an ein physisches Medium gebundene Theaterleute uns in unserem eigenen lokalen Wissen verorten. Auch wenn wir kreativ sein können, indem wir die Online-Technologie für die globale Kommunikation nutzen, müssen wir uns dennoch auch unserer Verortung bewusst sein. In diesem Sinne sollte die Zukunft des Festivals kleiner und subtiler sein, statt größer und besser. Als dritter Punkt sollten Festivals zu einem Teil eines längeren Prozesses werden, im Zuge dessen Kunstwerke über einen längeren Zeitraum präsentiert werden. Aktuell sind Festivals wie Feuerwerke. Sie sind für ein paar Sekunden verschwenderisch schön, aber im nächsten Moment wieder verschwunden. Dann kehren alle wieder in ihr Alltagsleben zurück.

Aber vielleicht sollten wir in Zukunft diese Temporalität neu überdenken, indem wir die Binarität von Festival und Alltag oder von Abnormem und Normalem vermischen – denn in der Post-COVID-Zeit können wir beides nicht länger trennen.

Im Alltäglichen tauchen immer wieder Kuriositäten, Unregelmäßigkeiten und Ausnahmen auf. Während wir hier sprechen, leben wir in einer Dauerkrise. Als Menschen, die in der Kunstwelt arbeiten, denke ich, dass wir diese Temporalität annehmen und Festivals schaffen sollten, die auf das Verstreichen der Zeit in unserer Lebensrealität reagieren und dieses widerspiegeln. Nicht zuletzt bin ich als asiatische Vertreterin der Meinung, dass Festivals in Zukunft eher auf intime, stärkende, regenerative und reflektierende Energie setzen sollten, als lautstark ihre einfallsreichen, innovativen und progressiven Konzepte zu verkünden, da der letztgenannte Ansatz sehr eng mit einer modernen europäischen Schaffensweise in Verbindung steht. Die Neudefinition der Schaffensweise im Festivalkontext könnte auch eine entscheidende Aufgabe für die Neukonzeption des Festivals im 21. Jahrhundert sein.

Jan Linders

Mir scheint, Sie versuchen, das Festival an sich in viele Richtungen zu entkolonialisieren. Haben Sie bereits eine konkrete Strategie, um das Festival vom „Feuerwerk“ zu einem Dauerfestival auszubauen?

Chiaki Soma

Tatsache ist, dass ich jetzt in Tokio wohne und die COVID-Situation es mir möglicherweise nicht erlauben wird, hin und her zu reisen. Wie können wir also das Festival aus der Ferne kuratieren? Das ist eine sehr schwierige Frage. Natürlich können wir einige Dinge im Vorfeld des Festivals planen, aber vielleicht können wir auch ein neues Modell dafür entwickeln. Vielleicht können wir unseren Schaffensprozess in Zusammenarbeit mit den Künstler:innen zeigen. Wir haben nicht vor, eine große Veranstaltung zu organisieren, die danach einfach wieder verschwindet. Stattdessen wollen wir etwas ganz Neues produzieren.

Jan Linders

Ich war schon immer ein großer Fan vom Theater der Welt oder Theater der Welten. Der Name des ersten Festivals stand übrigens bereits im Plural. Er lautete Theater der Nationen. Seitdem hat das Festival eine lange Entwicklung hinter sich. Der Name hat sich zu Welt hin verschoben, also mehr in Richtung einer entkolonialisierten Welt, auch wenn wir uns natürlich immer noch in einem Zustand der Kolonialität befinden. Und ich finde es großartig, dass Sie versuchen, das anzusprechen.

Und hier kommt eine Frage aus dem Publikum: Haben Sie bereits Visionen, wie Sie Ihre Ideen, insbesondere zur Entkolonialisierung des Festivals an sich, für zukünftige Ausgaben des Festivals weiterführen können?

Kyoko Iwaki

Zunächst einmal habe ich bewusst nicht das Wort „entkolonialisieren“ verwendet. Ich möchte auf keinen Fall sagen, dass die Dezentralisierung einzig über das Narrativ der Entkolonialisierung erfolgen kann. Wie wir alle wissen, ist dies ein Narrativ, mit dem wir äußerst vorsichtig sein sollten, da es bereits mit einer gewissen Politik, Geschichte und Kontroversen verbunden ist. Zumindest von unserer Seite aus wollen wir lieber von Dezentralisierung oder Queering sprechen als von Entkolonialisierung. Für mich ist der übermäßige Gebrauch des Begriffs im Kontext der Kunst ein sehr deutsches Phänomen. In dieser Hinsicht möchte ich das Wort Kolonialisierung oder Entkolonialisierung viel stärker nuancieren. Wenn wir aus japanischer Sicht über Entkolonialisierung nachdenken, denken wir immer daran, wie wir, die Japaner, andere asiatische Länder kolonisiert haben. Diese Art von Narrativ kommt im deutschen Kontext nie vor, sollte aber auch angesprochen werden. Im asiatischen Kontext sind wir nicht die Kolonisierten, sondern die Kolonisatoren. In diesem Sinne ist das japanische koloniale Narrativ bereits extrem verworren. Aus westlicher Sicht sind wir vielleicht bis zu einem gewissen Grad imperialisiert, aber aus asiatischer Sicht sind wir die Aggressoren. Auch hier ist die Binarität gequeert und gebeugt. Wir müssen diese Art von queerenden Narrativen einführen. Wir müssen queerende Vorstellungen von Kolonialisierung in den Kunstwerken thematisieren.

Jan Linders

Vielen Dank für Ihren Beitrag und die Anregung zum Dialog.

Chiaki Soma ist Gründerin und stellvertretende Direktorin von Arts Commons Tokyo, einem 2014 gegründeten Kunstkollektiv. Sie ist eine Kuratorin und Produzentin, die sich auf transdisziplinäre zeitgenössische Kunst spezialisiert hat, die Theater, zeitgenössische Kunst, sozial engagierte Kunst und Medienkunst mit AR/VR-Technologie etc. umfasst. In den letzten 20 Jahren hat sie verschiedene Projekte in Japan und Asien produziert und kuratiert: Programmdirektorin von Festival/Tokyo (2009 - 2013), Gründungspräsidentin und künstlerische Leiterin von Theater Commons Tokyo (2017 - heute), Kuratorin für Darstellende Künste der Aichi Triennale 2019 und 2022, Executive Producer des Toyooka Theater Festivals 2021. Sie wurde 2015 mit dem Chevalier de L'Ordre des Arts et des Lettres des französischen Kulturministers und 2021 mit dem Kunstförderpreis des japanischen Kulturministers ausgezeichnet. Derzeit ist sie außerordentliche Professorin an der Graduate School of Fine Arts der Tokyo University of the Arts.

 

Kyoko Iwaki ist Kuratorin und JSPS-Postdoktorandin an der Waseda-Universität. Derzeit hält sie auch Vorlesungen an der Chuo-Universität. Kyoko promovierte im November 2017 in Theaterwissenschaften an der Goldsmiths University of London. Nach dem Abschluss ihrer Promotion wurde sie Gastwissenschaftlerin am Segal Center, The City University of New York. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören "Ushio Amagatsu: Des rivages d'enfance au bûto de Sankai juku" (Paris, Actes Sud), "Japanese Theatre Today: Theatrical Imaginations of Eight Contemporary Practitioners" (Tokyo: Film Art Publishing, 2018). Sie hat auch Kapitel zu Fukushima and the Arts: "Negotiating Nuclear Disaster" (London, Routledge, 2016), "A History of Japanese Theatre" (Cambridge University Press, 2016) und "The Routledge Companion to Butoh Performance" (Routledge, 2018) beigesteuert. Sie schreibt für Zeitschriften wie New Theatre Quarterly.

 

Jan Linders studierte Germanistik und Philosophie in Hamburg und an der Johns Hopkins University, Baltimore. Praktika und Assistenzen bei George Tabori, Robert Wilson, Heiner Müller, Achim Freyer. Theaterarbeit als Dramaturg für Schauspiel, experimentelle Performance, Musiktheater, digitales Theater etc. Internationale Zusammenarbeit mit Brasilien, Frankreich, Georgien, Israel, Italien, den Niederlanden, Rumänien, der Schweiz und Thailand. 2013 wurde er zum Vizepräsidenten der Europäischen Theaterkonvention ETC gewählt. Seit 2018 ist er im Vorstand der deutschen Sektion des Internationalen Theaterinstituts ITI. Derzeit Programmleiter des Humboldt Forums, Berlin.